In der Zeit des Rationalismus wurde die lutherische Lehre teilweise ausgehöhlt, was zur Abspaltung bekennender Lutheraner führte. Als dann vor allem in Preußen 1817 eine Kirchenunion mit den Reformierten vom Staat erzwungen wurde, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen.
Die Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche hatte sich ab 1830 unter der Bezeichnung "Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen" (bzw. etwas später "in Alt-Preußen") gebildet. Wichtigster Theologe und geistlicher Führer der neuen Kirche war der Theologieprofessor Johann Gottfried Scheibel. Da Scheibel aus Breslau stammte, hatte die Kirche dort auch ihren Sitz. Nach harten Auseinandersetzungen, in denen viele altlutherische Theologen mit Gefängnis bestraft wurden, wurde die Gruppe ab 1841 geduldet und 1845 schließlich staatlich anerkannt, so dass sie sich eine eigene kirchliche Ordnung geben konnte. Sie ist damit die älteste lutherische Freikirche Deutschlands. Ihre Glieder wurden von Außenstehenden bald als "Altlutheraner" bezeichnet. Später schlossen sich auch Gemeinden aus anderen deutschen Ländern wie Nassau, Baden, Hessen und Hannover an. Später bildeten sich in diesen Ländern eigenständige lutherische Freikirchen, so 1865 die Evangelisch-Lutherische Kirche in Baden. 1930 wurde die Altlutherische Kirche unter dem Namen "Evangelisch-lutherische Kirche in Alt-Preußen" Körperschaft des öffentlichen Rechtes. 1955 nannte sie sich in "Evangelisch-lutherische (altlutherische) Kirche" um.
Heute stehen vor allen zwei lutherische Freikirchen in der Tradition der Altlutheraner. Das sind die SELK und die Lutherische Freikirche. 1945 bildete sich aus Altlutherischen Gruppen von Hessen, Niedersachsen, Baden und Hamburg eine föderal geführte Freikirche: die (alte) Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK). Ihr schloss sich 1950 die "Renitente Kirche umgeänderter Augsburgischer Konfession in Hessen" an.
Die heutige SELK entstand 1972 als Zusammenschluss dreier lutherischer Freikirchen: der Evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche, der Evangelisch-Lutherischen Freikirche und der alten 1945 gegründeten Selbständigen Evangelisch-lutherischen Kirche. 1991 kam es dann zum Zusammenschluss mit der Evangelisch-lutherischen (altlutherischen) Kirche der früheren DDR. Die SELK wird seit ihrer Gründung von einem Bischof geleitet. Die Lutherische Freikirche hat ihr Hauptwirkungsgebiet im Süden der früheren DDR.
Nach einer kurzen Arbeitsgemeinschaft mit der Lutherischen (alt-lutherischen) Kirche in der DDR trennte sich die Lutherische Freikirche 1984 von ihr. Nach der deutschen Wiedervereinigung schlossen sich der Lutherischen Freikirche auch einige Gemeinden der SELK aus den alten Bundesländern an. Die Lutherische Freikirche versteht sich als die authentischere Lutherische Kirche, im Gegensatz zur SELK. Die Lutherische Freikirche steht in Kontakt mit der sehr konservativen Wisconsin-Synode in den USA, während die SELK eng mit der Missouri-Synode zusammensteht.
Die SELK gehört zur ACK. Ihr Bischof gehört sogar zum Vorstand der ACK (Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen).
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wanderten bedrängte Lutheraner in die USA aus. Die bedeutendste Auswanderung war die so genannte Stephansche Auswanderung aus Sachsen. Durch diese Auswanderer entstanden orthodox-lutherische Kirchen in den USA und Australien. Die Wichtigste ist die Missouri-Synode. Sie ist die größte Lutherische Kirche der USA. Durch (alt) lutherische Missionsgesellschaften entstanden ähnliche Kirchen z.B. in Südwestafrika.
Neben den altlutherischen Gruppen gibt es zahlenmäßig weniger bedeutende altreformierte Gruppen. Sie entstanden ebenfalls im 19. Jahrhundert als Reaktion auf den Liberalismus in der damaligen reformierten Theologie.
Rainer Wagner
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