Während bei konservativen Medikamenten Wirkung und Unbedenklichkeit klinisch und experimentell nachgewiesen werden müssen, fordert der Gesetzgeber (Arzneimittelgesetz und Sozialgesetzbuch) von den Arzneimitteln der Phytotherapie, Homöopathie und Anthroposophie keine Qualitätsprüfung, so auch nicht für die anthroposophische Misteltherapie. Anthroposophische Vorstellungen von Entstehung und Verlauf von Krankheiten sind mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht vereinbar. Trotzdem haben Mistelpräparate in der Krebsbehandlung größere Verbreitung gefunden.
Für die Krebstherapie mit Mistelpräparaten sind Steiners Vorstellungen von den angeblich vier Leibern des Menschen grundlegend: Nur der physische Leib sei sichtbar; die drei höheren Leiber seien nur dem Geistesauge als farbige Lichtgestalt erkennbar. Der Ätherleib, der sich um den physischen Leib lagere, erscheine als rosafarbene, der Astralleib als rot-violette und der Ich-Leib als blaue Aura. Geschwulstartige Erkrankungen träten auf, wenn der Ätherleib den Zusammenhang mit dem Astral- und dem Ich-Leib verliere. Die Ursache für Krebs könne aber auch in vergangenen Erdenleben liegen, in diesen Fällen sei Krebs unheilbar (Reinkarnation). Nach R. Steiner bauen beim Krebs der Ich- und Astral-Leib den Äther- und physischen Leib nicht genügend ab. Ziel der Therapie müsse es also sein, das Gleichgewicht zwischen den Leibern wiederherzustellen. Nach Steiner
"übernimmt die Mistel als äußere Substanz dasjenige, was wuchernde Äthersubstanz beim Karzinom ist, verstärkt dadurch, dass sie die physische Substanz zurückdrängt, die Wirkung des Astralleibes und bringt dadurch den Tumor des Karzinoms zum Aufbröckeln, zum In-sich-Zerfallen" (In: R. Leroi, Misteltherapie, S. 31).
Wie die Mistel als "verunglückte" Samenpflanze, als "missratener" Baum betrachtet werden könne, so die Krebskrankheit als mangelhaft ausgestattete Scheinorganbildung. Wie die Mistel Ätherkräfte ihres Wirtsbaumes in sich hineinziehe, so könne sie dem krebskranken Menschen helfen, dem Fremdgebilde hemmende Kräfte entgegenzuführen. Die Mistel entziehe dem Tumor den menschenfremden Wucheräther, die Lebenskraft, verstärke den Astralleib und aktiviere den Ich-Leib. Dies könne "immer wieder beobachtet werden" (ebd. S. 32). Großen Einfluss auf Ernte und Verarbeitung der Mistel habe der Planet Uranus, da er ein Außenseiter in der planetarischen Familie sei, wie die Mistel in der Pflanzenwelt. Geerntet wird zweimal im Jahr, um Johanni und in der Weihnachtszeit. Die Sommer- und Wintersäfte der Mistel werden in der Oster- und Michaeliszeit verarbeitet. Je nach Konstitution des Kranken und der Geschwulst-Art werden Misteln bestimmter Wirtsbäume (Laub- oder Nadelbäume) ausgesucht und zugeordnet.
Die Indikationen der fünf Hersteller von Mistelpräparaten weichen allerdings voneinander ab, ohne Begründung. "Iscador" setzt Mistelpräparaten von Apfelbaum (für Frauen) und Eiche (für Männer) Silber hinzu und zwar bei Krebs im Urogenitalbereich, bei Darm- und Lymphdrüsenkrebs Quecksilber und Kupfer bei Leber-, Galle-, Magen- und Nierenkrebs. Steiner fordert, den Sommersaft der Mistel in den Wintersaft fließen zu lassen, während dieser in einer Zentrifuge bewegt wird. Bei hoher Rotationsgeschwindigkeit käme die Substanz in den Bereich der vom Kosmos einströmenden ätherischen Kräfte. Die Mischung solle anschließend in einer Tierblase aufbewahrt werden.
Die Mistelpräparate gibt es nicht, da sie sich je nach Hersteller deutlich unterscheiden und zwar hinsichtlich Extraktionsverfahren, Konservierung, Mischungsverhältnis und Mengenverhältnis der Inhaltsstoffe. Wissenschaftliche Forschungen haben die Mistel auf ihre Inhaltsstoffe untersucht und festgestellt, dass sie in ihrer Konzentration variieren — je nach Standort, Klima, Wirtsbaum und Erntezeit. Standardisierung und Normierung werden von den Anthroposophen vehement abgelehnt, weil die Misteltherapie dadurch ihre
"an der Komplexität realen Lebens und Leides orientierte Wirksamkeit verliert und auf messbare, quantifizierbare Wirkungen reduziert."
Mistelpräparate werden in der anthroposophischen Therapie grundsätzlich nur in einem Gesamtkonzept mit Zusatztherapie eingesetzt. Weil klinische Untersuchungen fehlen, kann über die Wirkung von Mistelpräparaten keine zuverlässige Aussage gemacht werden. Anthroposophen selber gestehen ein, dass die Mistelforschung (nach mehr als 80-jähriger Anwendung) noch im "Anfangsstadium" sei. Da weder Patienten noch Heiler Einblick in das anthroposophische Gesamtkonzept haben, verlassen sie sich auf unbewiesene Behauptungen von Heilerfolgen. Aus esoterischer Sicht ist die Misteltherapie als Analogiezauber (Ähnlichkeitszauber) zu beurteilen und aus christlicher Sicht abzulehnen.
S. ausführlicher: >Kleines Anthroposophie-Handbuch.
Adelgunde Mertensacker
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