Gruppendynamik

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1. Definition der Gruppendynamik

Gruppendynamik ist allgemein ein Forschungsgebiet mehrerer Wissenschaften, die sich mit den Vorgängen in Gruppen beschäftigen. Für Gruppendynamik als angewandte Methode ergibt sich (von den Wirkungen her gesehen) folgende Definition:

Gruppendynamik ist eine Methode zur bewussten Steuerung und Veränderung des Denkens und Handelns von Menschen auf dem Gefühlsweg mittels einer Gruppe.

Gruppendynamik findet also nicht statt, wenn sich eine Gruppe frei und ungezwungen über ein Thema unterhält. Frei ablaufende und nicht bewusst gesteuerte Gruppenprozesse sind als "Gruppendynamis" zu bezeichnen (in Entsprechung zu "Thermodynamis" - freie Entfaltung von Wärmeenergie). Sobald jedoch der Leiter oder einer der Teilnehmer beginnt, bewusst Gefühle bei den anderen freizusetzen mit dem Zweck der Steuerung, wird das Gebiet der Gruppendynamik betreten (in Entsprechung zu "Thermodynamik" - methodische Erfassung und Beeinflussung von Wärmeenergie-Abläufen). An der bewussten Steuerung also entscheidet es sich, ob Gruppendynamik vorliegt oder nicht.

2. Formen der Gruppendynamik

Hier gibt es große Verwirrung. Gruppendynamik tritt fast nie unter ihrem eigentlichen Namen auf, sondern in vielfach veränderten Formen unter den verschiedensten Bezeichnungen. So wird eingeladen zu Selbsterfahrungs-, Encounter-, >Sensitivitäts- und Gesprächsgruppen - und es handelt sich um Gruppendynamik. So nimmt man teil an einer Klinischen Seelsorgeausbildung, an einem Interaktions-, Konfrontations-, Kooperations-, Solidaritäts- und Kontakttraining - und man trifft auf Gruppendynamik. So hört man von Themenzentrierter Interaktion, Gestalttherapie, Psychodrama, >Synanon, >Transaktionsanalyse, Bioenergetik und Miniaturgesellschaft - und es findet Gruppendynamik statt. Im Kern sind alle Formen aufgebaut und haben das gleiche Ziel, nämlich die Veränderung von Menschen durch Menschen. Gruppen treffen sich in der Regel für ein Intensivwochenende (ca. 18 Stunden) oder eine Woche (ca. 40 Stunden) oder mehrere Wochen. Manchmal finden Gruppensitzungen auch ein- bis zweimal wöchentlich statt, jeweils z.B. 1-2 Stunden lang, für den Zeitraum eines Jahres oder länger. Die Zahl schwankt zwischen 8 und 15 Teilnehmern. Jeder Teilnehmer muss bestimmte Regeln beachten, z.B.: Wir leben im Hier und Jetzt; wir reden darüber, wie wir uns hier und jetzt fühlen, weniger über Vergangenes und Zukünftiges. Keiner soll sich hinter einem "man" oder "wir" verstecken; jeder soll in der "Ich"-Form reden. Jeder soll absolut offen und ehrlich sein. - Meist trifft sich die Gruppe gezielt in Absonderung von der Außenwelt, d.h. der Tagungsort liegt so, dass die Gruppe unter sich sein kann.

3. Stufen der Gruppendynamik

a. Die erste Stufe ist das sog. unfreezing , d.h. das "Auftauen" starrer ("eingefrorener") Erlebnis- und Verhaltensweisen.
Sie kann z.B. dadurch eingeleitet werden, dass der "Trainer" oder "Therapeut", der die Gruppe eingeladen hat, einfach schweigend und passiv dasitzt. Die Teilnehmer sind zunächst verwirrt und ängstlich. Dann äußern einzelne Unmutsgefühle:

"Wozu sind wir überhaupt gekommen? Das ist doch Zeitverschwendung! Warum gibt der uns keine Antwort?"

Die Angriffe können sich bis zum verbalen "Killen des Trainers" steigern, der jedoch seltsamerweise gar nicht darauf reagiert. Plötzlich aber entwickeln einige Teilnehmer Mitleid mit dem Trainer und richten ihre Aggressionen gegen die Gruppenmitglieder, die ihn am heftigsten angegriffen haben. Viele geben ihre persönlichsten Meinungen preis. Damit ist das Gespräch auf die Gefühlsebene gelenkt. Das Gefühl (Emotion) wird zum "Material", mit dem die Methode arbeiten kann.

b. Die zweite Stufe setzt ein: change ("Veränderung").
Die Teilnehmer enthüllen nun ihre innersten Gefühle und Probleme. Der Trainer sowie Co-Trainer, "Reflektoren" oder "Veränderungsagenten" (Lewin), die manchmal unter die Teilnehmer gemischt sind, steuern das Gespräch in der gewünschten Richtung. Sie wissen dabei, wie sie die einzelnen Persönlichkeitstypen unter den Teilnehmern zu behandeln haben. Sie wissen auch, wie die Beziehungen (Sympathien, Antipathien) zwischen den Teilnehmern strukturiert sind. Treten z.B. Hemmungen auf, sich seelisch zu entblößen, dann beginnt der Co-Trainer als erster, seine Gefühle zu äußern. Die Mehrzahl der Teilnehmer schließt sich meist an ("Gruppenbeichte"). Wer sich nicht anschließt, wird zum Außenseiter abgestempelt. Der Gruppendruck wird für diesen schließlich unerträglich, so dass er darunter zusammenbricht und sich auch entblößt - oder die Gruppe verlässt. Ein solches Zerbrechen ist der Punkt, an dem die meisten offenkundigen psychischen Schädigungen bei Teilnehmern entstehen.

c. Haben alle Teilnehmer "gebeichtet", dann kann die dritte Stufe eingeleitet werden, das refreezing ("Wiedereinfrieren").
Ein wunderbares Gefühl der Harmonie tritt ein, ein "Wir-" oder "Kollektivgefühl". Nie haben sich die Teilnehmer vollständiger offenbart, nie sind sie vollständiger akzeptiert worden als in dieser Gruppe. Hier wird keine Schwäche und keine Sünde verurteilt, denn die neue Gruppenmoral lautet:

"Alles ist erlaubt."

Es kann so weit kommen, dass die Teilnehmer einander die Schuld "vergeben" ("Gruppenabsolution"). Gelegentlich wird die eintretende psychische Veränderung als "Wiedergeburt" empfunden. Alle Werte, Regeln und Gebote (auch z.B. biblische Gebote!), alle weltanschaulichen, ethischen und religiösen Standpunkte sind nun nebensächlich; das Entscheidende ist das Vertrauen und die Wärme, die der erfährt, der sich der Meinung der Gruppe anschließt.

4. Methoden der Gruppendynamik

Es gibt gruppendynamische Methoden und Verfahrensschritte mit Worten (verbal) und ohne Worte (nonverbal). Einige Beispiele für nonverbale Methoden:

a. Blindekuhspiel:

b. Hahnenkampf:

c. Schlagen:

d. Entspannungsübungen

e. Streicheln u.ä.:

Im Rahmen der gruppendynamischen Methode sind das nicht mehr harmlose, neutrale "Spiele", sondern Mittel zum methodisch gesetzten Zweck der Veränderung von Menschen durch Menschen.

5. Gefahren der Gruppendynamik

a. Gruppendynamik ist nicht weltanschaulich neutral ,

sondern wie jede Methode in Vorverständnisse eingebettet.
Die Begründer der Gruppendynamik (Jacob >Moreno, Kurt >Lewin, Carl Rogers u.a.) waren Ideologen. Sie entwickelten ihre Methoden, um dem sündigen Streben des Menschen entgegenzukommen, selbst zu sein wie Gott und eine Welteinheitsgesellschaft zu erbauen.

b. Gruppendynamik ist daher selber eine Ideologie.

Wie jede Ideologie will sie den Menschen ganz vereinnahmen. Sie befreit ihn nicht zu größerer Mündigkeit, sondern raubt ihm seine Freiheit und manipuliert ihn. In die gesteuerte, unfreie Gruppe eingebunden, ist auch der einzelne in der Gruppe nicht mehr frei, sondern wird den Veränderungszielen des Gruppenleiters angepasst. Das Fatale und Unheimliche ist nun aber, dass auch der Gruppenleiter im Verlauf einer Sitzung ein Opfer der Methode werden kann. Gruppendynamik arbeitet Ja mit Gefühlen. Sie will durch Manipulation auf der Gefühlsebene Meinungen und Verhaltensweisen verändern. Wird nun der Leiter von dem Gefühlsstrudel, den er selbst freigesetzt hat, erfasst, dann verliert er mehr und mehr die Kontrolle über sich und über die Methode. Die Methode verselbständigt sich, und die Folgen sind unabsehbar. Aus christlicher Sicht muss man feststellen, dass es sich hier nicht nur um Gefühle, sondern um Geistes-, ja Geistermächte handelt, die sich verselbständigen können. (vgl. Eph 6,10ff.).

c. Gruppendynamik kann zu einer noch viel größeren Gefahr werden, wenn einer mit diesen Mächten umzugehen weiss.

Wo ein Mensch so kaltblütig ist, eine gruppendynamische Sitzung zu steuern, ohne selbst von ihrem Sog erfasst zu werden, da gewinnt dieser Mensch - im Bund mit diesen Gewalten - eine ungeheure Macht. Er kann Menschen steuern wie Marionetten. Genau das waren ja auch die Pläne von Moreno, Lewin und anderen: einen einheitlichen soziometrischen Aufbau der Gesellschaft durch Gruppendynamik zu schaffen - und das ist nur möglich durch Schaffung einer Einheitsmeinung. Wer dürfte sich jedoch als Mensch eine solche Macht anmaßen? Wird hier Gruppendynamik zum Werkzeug von Diktatoren ?

d. Wo gesteuert wird, ist Methode.

Methode aber zerstört die Freiheit im mitmenschlichen Umgang . Im methodischen Korsett bleibt kein Raum für Spontaneität, Intuition und Liebe - alles Qualitäten, die nur der freie Mensch besitzt. Im methodischen Korsett herrscht auch nicht die Freiheit des Geistes Gottes, der

"weht, wo er will" (Joh 3,8).

Deshalb kommt man in christlich verbrämter Gruppendynamik über "fromme Gefühlserlebnisse" nicht hinaus. Der Geist Gottes lässt sich nicht in eine Methode zwingen, ja er ist mit der Methode der Gruppendynamik gänzlich unvereinbar.

e. Gruppendynamik verletzt die Würde des Menschen , die ihm Gott gegeben hat.

Im menschlichen Intimbereich darf aber nicht einfach herumgestochert werden. Es darf Gartenbaumethoden geben, aber keine "Menschenbaumethoden". Gruppendynamik bringt nachweisbare Schädigungen mit sich. Um wirklich etwas zu "erleben", muss sich der einzelne ganz in die Gruppe hineingeben. Er muss seine eigene Persönlichkeit aufgeben und sich verändern lassen. Er muss "verbluten nach außen" (Moreno). Dabei aber können Schäden entstehen wie:

Untersuchungen von Lieberman u.a. haben ergeben, dass bei einem Drittel der Teilnehmer solche Schädigungen nachweisbar auftreten. Nicht grössere Mündigkeit, sondern Lebensuntüchtigkeit, nicht Selbsterfahrung, sondern Selbstzerbruch wird also in der Gruppendynamik erreicht.

f. Gruppendynamik kann zur Gruppensucht führen.

Der einzelne kann sich so in die Gruppe hineingeben und mit ihr verwachsen, dass er außerhalb der Gruppe nicht mehr lebenstüchtig ist. Er will und muss immer wieder zur Gruppe zurück wie ein Kind zur Mutter. Kann er das nicht, so wird er ein dauernd frustrierter Mensch sein. Auf die Faszination folgt die Frustration, auf die Begeisterung folgt Die Enttäuschung, weil die wirkliche Welt ganz anders ist als die künstliche Gruppenwelt.

g. Gruppendynamik ist zur Lösung von Problemen nicht geeignet ist.

Die Beschränkung oder Konzentration auf die Gefühlsebene ist eine zu einfache bzw. gar keine Antwort auf die komplizierten Probleme unserer Welt. Die Ausklammerung von Umwelt und Vergangenheit durch das "Hier-und-Jetzt-Prinzip" fördert Geschichtslosigkeit. Der Gesamtzusammenhang menschlichen Lebens wird zerstört. So wird wahre Identitätsfindung unmöglich. Der Psychologe H. M. Ruitenbeek meint:

"Wissen und Intellekt ausser acht gelassen, und wir enden in einer Gesellschaft von Schwachsinnigen."

h. Gruppendynamik ist auch deshalb nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar

... weil sie biblische Gebote außer Kraft setzen will. Die neue Gruppenmoral lautet ja:

"Alles ist erlaubt - und zwar innerhalb der Normen, die die Gruppe selber setzt. Nicht Gott, sondern die Gruppe wird hier zu ihrem eigenen Gesetzgeber. Das aber ist Auflehnung gegen Gottes Willen - und damit auch gegen Gottes Liebe, die in manchen Gruppensitzungen so viel beschworen wird. Denn wie sollte Gott dem seine Liebe erweisen, der sie gar nicht zu brauchen meint, sondern sich selbst seine Gebote setzt - der damit meint, auch seine eigene Vergebung bewerkstelligen zu können?! Weder Gottes Gebote noch Gottes Liebe werden hier ernstgenommen, sondern zu gruppendynamischen Gefühlserlebnissen verniedlicht.

i. Gruppendynamik bewirkt eine seelische Manipulation und tritt damit in Gegensatz zu geistlicher Gemeinschaft.

Lebendige christliche Gemeinschaft aber lässt sich nicht "machen", wie manche meinen, schon gar nicht durch psychologische Tricks und gruppendynamischen Druck. So entsteht höchstens seelische, gefühlsmäßige Gemeinschaft, aber keine geistliche Gemeinschaft. Lebendige christliche (und das heisst immer: geistliche) Gemeinschaft kann nur in festem Gegründetsein auf das biblische Wort von Gottes Geist geschenkt werden, der keinen verletzt und manipuliert (vgl. D. Bonhoeffer, Gemeinsames Leben).

S. auch: Bioenergetik; Encounter; Gemeinschaft_geistliche und seelische; Gestalttherapie; Lewin, Kurt; Marathon; Miniaturgesellschaft; Psychodrama; Rogers_Carl; Sensitivity-Training; Themenzentrierte Interaktion;

Lit.: L. Gassmann, Fühlen statt zu denken, 1991; ders., Was ist Gruppendynamik?, 1998.

Lothar Gassmann


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