Leitende Körperschaft ist das ca. 10-20-köpfige Führungsgremium (die Mitgliederzahl kann wechseln) in der Brooklyner Zentrale der Zeugen Jehovas (Wachtturm-Gesellschaft).
Die Leitende Körperschaft gilt als Jehovas Regierung auf Erden, als der "treue und verständige Sklave" nach Mt 24,45, als der Kanal für Gottes Offenbarung, die Monat für Monat durch den "Wachtturm" und andere Schriften in alle Welt weitergeleitet wird. Der einzelne hat sich der in ihr verkörperten Theokratie gläubig und gehorsam unterzuordnen.
So heisst es in dem Anweisungsbuch "Organisiert, unseren Dienst durchzuführen":
"Die Einheit wird dadurch aufrechterhalten, dass alle Christus loyal als Haupt anerkennen und sich auch einem organisatorischen Mitteilungskanal, dem ´treuen und verständigen Sklaven`, unterordnen" (S. 25).
Kurt Hutten spricht in diesem Zusammenhang von einer
"schrankenlose[n] geistige[n] Diktatur, welche die Leitung über die Anhänger aufgerichtet hat" (Hutten, Seher - Grübler - Enthusiasten, 1968, 97).
Der ehemalige Zeuge Jehovas W. J. Schnell berichtet von der umfassenden Kontrolle jedes einzelnen Mitglieds und einem "Spitzelsystem", das aufgebaut worden sei, um die Loyalität der Anhänger zu beobachten und zu gewährleisten (Schnell, Falsche Zeugen stehen wider mich, 1959, 72.146f.).
Die Zeugen Jehovas sind als Organisation streng hierarchisch durchstrukturiert:
Vor Ort treffen sich die Versammlungen mit ihren Ältesten und einem "Vorsitzführer". Über der Ortsversammlung stehen in aufsteigender Reihenfolge und mit immer größerem Einflussbereich:
Stadtaufseher, Kreisaufseher, Bezirksaufseher, Zweigaufseher, Zonenaufseher - und schließlich das Direktorium mit Präsident und Vizepräsident (Leitende Körperschaft). Über dem Direktorium steht kein Staat, keine Regierung, keine Kirche, sondern nur noch Jehova selbst, mit dem es sich direkt verbunden sieht. Die Zeugen Jehovas bilden nach ihrem Selbstverständnis also eine Theokratie (Gottesherrschaft) auf Erden und stellen somit eine überstaatliche Gemeinschaft oder - auf die einzelnen Länder bezogen - einen "Staat im Staate" dar. Aus der daraus erwachsenden staatskritischen bis staatsfeindlichen (und kirchenfeindlichen) Haltung ergeben sich eine Reihe von Besonderheiten und Problemen, etwa die Ablehnung des Fahnengrußes, des Wehr- und Zivildienstes, der staatlichen und kirchlichen Feiertage, Feste und Symbole, die Nichtbeteiligung an politischen Parteien, Wahlen und Willensäußerungen usw. Erst in den letzten Jahren - im Streben nach staatlicher Anerkennung - wurde die rigorose Haltung etwas gelockert.
Es bleibt kritisch festzustellen, dass eine bloße Anerkennung des Staates auf einzelnen Gebieten (die auch für die Zeugen Jehovas von Vorteil sind) für ein Leben als verantwortlicher Staatsbürger und Christ nicht ausreicht. Vielmehr sind Christen gerufen, "Licht" und "Salz" in der Welt zu sein (Mt 5,13-16), die Welt also nicht sich selbst zu überlassen, sondern konstruktiv und verbessernd in sie hineinzuwirken - sowohl missionarisch als auch diakonisch (und zu letzterem gehören auch politische Einflussnahmen, Veränderungen und Verbesserungen für die notleidenden Menschen). Hier hat die Wachtturm-Gesellschaft ihr altes, distanziertes Verhältnis gegenüber den Staaten und öffentlichen Gemeinschaftsformen beibehalten - eine Haltung der Absonderung, die ihr - schon rein soziologisch gesehen - den Charakter einer Sekte (im Sinne einer vom Gemeinwesen abgespaltenen Gemeinschaft) verleiht.
S. auch: Zeugen Jehovas; Wachtturm-Gesellschaft; Zwei-Klassen-System.
Lit.: L. Gassmann, Zeugen Jehovas, 2000.
Lothar Gassmann
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