Rittelmeyer, Friedrich (1872-1938) war maßgeblicher Begründer und erster Erzoberlenker der anthroposophisch inspirierten Christengemeinschaft.
Ähnlich wie Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, berichtet auch R. in seiner Autobiographie "Aus meinem Leben" (1937) von frühen übersinnlichen Erlebnissen, die ihm auf drei Gebieten begegneten: erstens in der Musik (v.a. von Brahms, Wagner, Bach, Mendelssohn und Bruckner), die für ihn die "Schleier durchsichtig" werden ließ, die "unsre Alltagswelt von der überirdischen Welt trennen", und die ihm auch das Joh wie eine "höhere Welt von Lebensklängen" erschloss (16f); zweitens im lutherischen "Kultus", der seiner Ansicht nach "nichts anderes als Teilnahme am Leben der göttlichen Welt selbst" ist (18); drittens in den okkulten Neigungen seiner Eltern. "Bedeutsam wurde für mich ... die okkulte Neigung und Begabung meines Vaters und noch mehr meiner Mutter", betont R. und nennt als Beispiele Ereignisse des Wahrträumens und Fernfühlens (20f). Doch insgesamt verdankte er seinem Vater, der sich der lutherischen Orthodoxie zugehörig fühlte, "religiös ... unmittelbar wenig" (20). Die "tiefsten religiösen Eindrücke der entscheidenden Jahre" erhielt er "nicht durch Predigten, nicht durch Gottesdienste, auch nicht einmal durch Persönlichkeiten, sondern durch die Musik" (16). Schon früh setzte die Bemühung ein, aus dem Elternhaus und dem "engen Haus der lutherischen Orthodoxie" auszubrechen - ein "Freiheitskampf', der ihn das ganze Leben hindurch nicht mehr loslassen sollte (18f). Insbesondere mit dem reformatorischen Sünden- und Rechtfertigungsverständnis konnte R. wenig anfangen: "Ich fühlte mich ins Gesetzliche gestoßen mit diesem Brüten über Tagessünden, wo ich Wesens-Speise gebraucht hätte ... Ich empfing Trost - und brauchte Ideale. Ich wurde hineingezwängt in einen Bekehrungszwang - und hätte so gerne einen Lebensinhalt gehabt" (48f). Von den "evangelisch-lutherischen Schwarzmalereien" enttäuscht, zieht R. offenherzig das Fazit über seine Jugendzeit: "Als Heide ging ich durch die christliche Welt, jahrelang; Pfarrer wollte ich aber - aus einem tiefen inneren Wissen heraus - trotzdem immer werden" (49).
Um den Weg zum Pfarrer gehen zu können, begann er im Jahr 1890 mit dem Studium der evangelischen Theologie und der Philosophie an der Universität Erlangen (6). Die "Universität" - gemeint ist die theologische Fakultät - war für ihn in mehrfacher Hinsicht "eine tiefe Enttäuschung". Anstelle der "Weisheitsschätze aller Kulturen" erwarteten ihn "allerlei unwichtige Spezialistenkenntnisse" (57). Die historisch-philologisch arbeitende neutestamentliche Bibelerklärung, die er bei dem jungen Dozenten Gloel kennenlernte, erschien ihm wie "äußeres Wissen und Handwerk", das nicht wirklich in die "Lebenswelt des Neuen Testaments" hineinführte. An der Erklärungsweise des bereits verstorbenen und noch nachwirkenden J. Chr. K. v. Hofmann hingegen bewunderte er zwar, dass sie "statt eines Kommentars den Geistesgehalt einer Schrift in Ausführlichkeit bis in alle Einzelheiten wiederzugeben suchte", und doch fühlte er "nicht die geringste Neigung", auf v. Hofmanns Wegen weiterzugehen. Die durch v. Hofmann beeinflusste Erlanger Theologie, deren "große Zeit vorüber" war, erschien ihm als "zu gewollt eng" und "zu problemlos gläubig" (59). So war R. bald "mehr bei den Philosophen als bei den Theologen zu finden" (60). Er las Kant, wollte sich aber - ähnlich wie Steiner - mit den von Kant aufgewiesenen Erkenntnisgrenzen nicht zufrieden geben. So schreibt er über Kant: "Im Denken üben konnte er, im wesenhaften Wissen fördern kaum ... wenn ich in dieser Weise denke, fühle ich förmlich, wie ich dabei verkalke ... Man gewinnt ein Denkgerüst, aber man wird zum Denkskelett" (61). Näher lag ihm - wie auch Steiner - der spekulative Idealismus Fichtes, Schellings und Hegels. Dieser wurde ihm durch den Philosophen Class vermittelt (62f). Class erwartete in seinen 1896 veröffentlichten "Untersuchungen zur Phänomenologie und Ontologie des menschlichen Geistes" im Anschluss an Schelling ein "'johanneisches Zeitalter"' des Geistes, bezeichnete als Zweck des Daseins "die Vergeistigung der menschlichen Natur", verkündete in Analogie zu Hegel "ein gewaltiges ideelles Reich", in dem "ein Aufsteigen vom Niederen zum Höheren stattfindet", und postulierte in Anlehnung an Fichte, dass "das Ich als geistiges der Vernichtung nicht anheimfällt", sondern unsterblich ist. Diese Gedanken sind, wie unsere weitere Darstellung zeigen wird, als mächtige Impulse in R.s System eingeflossen.
Der spekulative Idealismus begegnete R. auch im Denken des Dogmatikers Reinhold Frank, der in - allerdings nur formaler - Analogie zu Fichte sein System von der "religiösen Zentralerfahrung des von Gott ergriffenen Menschen" ableitete (64f). Entscheidend war für Frank das Ereignis von "Wiedergeburt und Bekehrung". "Wie ich in Class den Geist geahnt hatte, so nun in Frank das Ich", stellte R. im Rückblick auf seine Erlanger Zeit fest (65; Hi0).
Im Frühjahr 1892 wechselte er an die Universität Berlin über, "um Harnack und Kaftan zu hören" (83; HddV), ferner den Historiker Heinrich von Treitschke, der für ihn "lebenslang der akademische Lehrer geblieben" ist (87; Hi0). Über Harnack und Kaftan äußert sich R. im Rückblick folgendermaßen: "Diesen beiden Männern verdanke ich es, dass ich theologisch wirklich auf die eigenen Füße kam. Ihre Kollegien waren keine Erbauungsstunden. Aber es wehte eine freie, offene Menschlichkeit, in der man recht wohl atmen konnte. Schon damals wusste ich ganz klar, dass ich mich hier nicht ansiedeln würde. Aber ich wusste auch, dass ich hier einmal durchgehen musste" (84). Der liberalen Theologie verdankt es R. - so schreibt er noch als Erzoberlenker der Christengemeinschaft im Jahre 1937 (!) -, dass er "heute noch Theologe" ist und dass er "als Theologe ein wahres und freies Leben führen konnte durch Jahrzehnte". Mit Harnacks Hilfe nämlich machte er sich "von allem altem [sic] Autoritätsglauben frei" und blickte "auf alles Große, was es außer dem Christentum in der Welt gab" (258). Und doch konnte er bei Harnack nicht stehen bleiben. Sein Biograph Erwin Schühle bringt das damalige Bemühen R.s so zum Ausdruck: "Das Verständnis des Evangeliums musste neu errungen werden. R.s Hoffnung, dass diejenige theologische Bewegung, die gerodet hatte, auch säen werde, hatte sich nicht erfüllt." Insbesondere die Herausnahme des Sohnes aus der Botschaft des Evangeliums und die Relativierung der leiblichen Auferstehung Christi durch Harnack konnte R. nicht nachvollziehen. So war er weiter auf der Suche.
Sehr bald stieß er auf Vorstellungen der Ich-Philosophie und der Gnosis, die ihm wichtige Anstöße für sein späteres Christusverständnis gaben. Durch die Lektüre von Carlvle und Fichte am Ende seiner Universitätszeit trat ihm - deutlicher noch als bei Frank - das "Königtum des Ich" vor seine Seele (91ff). Und durch das Studium der valentinianischen Gnosis ahnte er zum ersten Mal ein Christentum von ferne, wie es ihm "weder Frank noch Harnack hatten zeigen können, ein Christentum, das nicht nur eines Tages in die Weltgeschichte wunderhaft eintritt, sondern das mit innerstem Licht das gesamte Weltwerden durchleuchtet" (94). Wiederum begegneten ihm - nun in vertiefter Form - das "Ich" und der "Geist". Doch zunächst "versank diese Welt wieder" (94), um erst später endgültig ins Bewusstsein gehoben zu werden. Am Ende seines Studiums im Jahre 1894 hatte R. "eine Theologie, aber keine Religion, kein Christentum" (6.101).
So empfand er die bevorstehende Ernennung zum Vikar als Drohung und entzog sich ihr durch "Flucht" - zuerst durch eine kurze Militärzeit und dann durch eine ausgedehnte Reise: "Monatelang irrte ich ratlos durch etwa dreißig deutsche Städte" (102f). Er besuchte bekannte Stätten und Persönlichkeiten der damaligen Christenheit, z.B. Herrnhut (106ff), Bethel (11411) und Friedrich Naumann (120ff). Und obwohl ihn etwa in Herrnhut durch ein visionäres Erlebnis zum ersten Mal eine Ahnung davon befiel, was "Kosmisches Christentum" ist (110), so wusste er doch sehr bald, dass er sich an keiner der besuchten Stätten geistig ansiedeln würde. Der Eindruck, den er von der Welt Bodelschwinghs mitnahm, gilt im Grunde auch im Blick auf die anderen Stationen seiner Reise: "... eine ehrfurchtgebietende Welt - aber nicht deine Welt! Hier vermochte nur ehrlich mitzutun, wer im alten Christentum noch zu Hause war oder sich zu ihm zurückzwingen konnte. Nach neuen Lebensufern aber drängte der innere Drang" (120).
Im Jahre 1895 nahm R. dann doch die Ernennung auf das erste protestantische Stadtvikariat in Würzburg an, das er bis 1902 bekleidete (6.139). Das Ereignis, das es ihm möglich machte, in der evangelischen Kirche zu wirken, "glich gar nicht einer sogenannten 'Bekehrung"', keinem "Sturm von Gefühlen". "Vielmehr waren es zarte, geistige Eindrücke vom Dasein einer höheren Welt" (127). Diese wurden ihm wieder vor allem durch die Musik zuteil (128ff). Rückblickend legt R. Wert auf die Feststellung, dass er von Anfang an in innerer Distanz zur evangelischen Kirche gestanden habe. Seine Haltung war die eines "Geisteskämpfers", der "immer völlig frei" und entschlossen sein muss, "in jedem Augenblick selbst sein Amt aufzugeben" (140). Vor allem die Verpflichtung auf ein Bekenntnis kam ihm einer "geistigen Knebelung" gleich (141). So gelangte er zu einem Kompromiss: "Was sich mir als Wahrheit ergab aus Bibel und Bekenntnis, habe ich verkündigt und über das andre habe ich geschwiegen" (145; Hi0).
In seiner Vikariatszeit schrieb R. hei dem Würzburger Philosophen Oswald Külpe seine Dissertation, die 1903 unter dem Titel "Friedrich Nietzsche und das Erkenntnisproblem" erschien (172f.438). An Külpe bewunderte er, dass er "zu einer neuen Metaphysik vordringen" wollte. Zugleich bedauerte er, dass er an den Grenzen des "kritisch-synthetischen Verstandesdenkens" stehen blieb (171f). Mit Nietzsche beschäftigte sich R. auch auf seiner Pfarrstelle an der Nürnberger "Heilig-Geist-Kirche", die er 1903 erhielt und his 1916 bekleidete (6.204). In dieser Zeit ging er daran, seinen bereits in Würzburg aufgestellten "Lebensplan" zu verwirklichen. Er hatte das Ziel, "mit vierzig Jahren ... ein Buch über Jesus zu schreiben". Zu diesem Zweck wollte er sich einerseits "durch die Evangelien ... immer tiefer in die Persönlichkeit Jesu hineinfühlen". Andererseits wollte er "zum Vergleich eine Reihe anderer Geister durchleben". Er wählte Nietzsche als "den entschlossensten Christusgegner der Geschichte", Tolstoi als "den bedeutendsten Christen der Gegenwart unter allen Völkern", Buddha als "den Verkünder der wichtigsten außerchristlichen Religion", Meister Eckehart als "einen ganz großen Christen der Vergangenheit" und Johannes Müller als Zeitgenossen "mit dem eigenartigsten Jesusverständnis" (207). Über alle diese Persönlichkeiten schrieb R. Monographien oder Aufsätze und empfing von ihnen Anstöße, ohne sich jedoch einer Weltanschauung völlig anzuschließen. Am stärksten dürfte - vor Steiner - Meister Eckehart und die nach R.s Meinung durch diesen vermittelte indische und neuplatonische Mystik auf ihn und auf die Theologie der später entstandenen Christengemeinschaft eingewirkt haben. So schreibt R. über Meister Eckehart: "Die Sicherheit, mit der er auch auf den Höhen neuplatonischen Erlebens, ja indischer Mystik wandelte und sich doch als Christ fühlte, gab uns mächtigste Lebensanstöße ... Alles, wirklich alles, was man heute an Meister Eckehart entdeckt, ist damals schon durch unsre Seele gezogen und hat mitgewirkt - zu dem Christentum, das wir heute zu verkündigen haben" (216).
Durch den theologischen Außenseiter Johannes Müller (1864-1949) wurde R. in seiner Überzeugung bestärkt, dass eine "höhere göttliche Wirklichkeit ... hinter der Sinnenwelt zu entdecken" ist und dass der Mensch "in sich das Organ für diese göttliche Wirklichkeit" trägt (273). Rückblickend bemängelte R. jedoch, dass bei Müller "alles im 'unmittelbaren' Augenblicks'leben' der Seele festgehalten, dass der Schritt in den erkennenden Geist hinein nicht gemacht wurde" (274; Hi0). Als R. im Jahre 1918 in der Schrift "Johannes Müller und Rudolf Steiner" die Auseinandersetzung mit Müller führt, sieht er den Hauptunterschied darin, dass Steiner den Zugang zu den "höheren Welten" nicht über die unbewussten Gemüts- und Gefühlskräfte der Seele, sondern über das bewusste Denken des Geistes erstrebt. Betrachtet man diese "Vorstudien" R.s, vor allem seine Beschäftigung mit Meister Eckehart, so ist es nicht verwunderlich, dass sein "Jesus"-Buch (es erschien tatsächlich in seinem 40. Lebensjahr, im Jahre 1912) klassische Lehren der liberalen Theologie mit Elementen der Mystik vereinigte. R. verstand darin - wie Erwin Schühle zusammenfassend bemerkt - "das ganze Wesen des Jesus... aus der Urverwandtschaft des Menschlichen mit dem Göttlichen". Jesus war ihm "die höchste Verwirklichung Gottes durch einen Menschen" und "die Manifestation höchster sittlicher Kraft" (E. Schühle, Entscheidung für das Christentum der Zukunft, 1969, 65). Dass R. über die liberale Theologie seiner Zeit hinausstreben würde, war bereits in seinem 1909 erschienenen RGG-Artikel über die "Christologie" angeklungen. Hier sprach er sich einerseits im Gefolge Harnacks dagegen aus, "das Eingreifen Gottes in Jesus und die Einzigartigkeit Jesu in altdogmatisch-massiver Weise zu verstehen". Das "Einzige und Letzte", was man über "Jesu Entstehung" sagen könne, sei dies, "dass Jesus als natürliche Mitgabe eine ganz einzigartige religiössittliche Anlage von höchster Kraft und Reinheit mit in die Welt gebracht" habe, wobei "ganz besondere, in dieser Weise niemals wiederkehrende geschichtliche Verhältnisse" dieser Anlage entgegengekommen seien. Andererseits möchte R. die. Erscheinung Jesu "dem System der kosmischen Möglichkeiten" einordnen. "Die Christusanschauung, die auf diese Weise gewonnen werden wird, mag an manchen großen Gedanken der deutschen Mystik und des deutschen Idealismus anknüpfen" (RGG I/1909, Sp.1179f.).
Zur Anthroposophie (damals noch "Theosophie") war R. im Jahre 1910 durch den Nürnberger Volksschullehrer und Okkultisten Michael Bauer (1871-1929) gelangt, als er Material für einen Vortrag über die "religiösen Strömungen der Gegenwart" suchte (F. R., Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner, 1928, 10. Aufl. 1983; daraus die folgenden Zitate). Bauer, philosophisch geschult an Haeckel und Hegel und den Übungen des Okkultisten Kerning hingegeben, bemühte sich, "durch Geisteskraft Menschen von Krankheiten zu befreien". Er ließ R. "teilnehmen an seinen eigenen Erlebnissen mit Verstorbenen" und wurde für ihn der Führer zu Rudolf Steiner, dem er am 28.8.1911 bei einem Vortrag zum ersten Mal begegnete (15.19.29). R. verschweigt nicht die großen Vorbehalte, die er gegen die Theosophie allgemein und anfangs auch gegen Rudolf Steiner hatte. Aus den theosophischen Schriften von Annie Besant und ihren Geistesverwandten stieg eine "Wolke" auf, aus der ihm "allerlei Ungesundes, Gewolltes. Glücksgieriges" entgegenschlug (ebd, 20). An Steiner bewunderte R. demgegenüber zwar seine philosophische Schulung, konnte aber insbesondere seine Wiederverkörperungslehre und Bibelauslegung zunächst nicht akzeptieren (21ff.48ff). Über Steiners Bibelauslegung bemerkt er: "Wohl blieben mir manche Auslegungen unzugänglich, ja recht unwahrscheinlich. Die Fremdheil, mit der mich vieles berührte, auch unsympathisch berührte, konnte kaum größer sein" (21). Doch wurden ihm diese Vorbehalte in den persönlichen Gesprächen mit Steiner zunehmend genommen: "Oft bin ich später dann doch mit einer Liste in der Tasche zu Rudolf Steiner gegangen, auf der die anfechtbaren Bibelauslegungen verzeichnet standen. Aber wenn ich mit ihm sprach, schien mir anderes viel wichtiger. Meine Bibelstellen blieben als unwesentlich in der Tasche gegenüber dem, was ich dann fragen und erfahren konnte" (22). Schritt für Schritt öffnete sich R. den Lehren Steiners. Dabei spielten die "Ratschläge für okkulte Übungen", die er von Steiner für seine Weiterentwicklung und zur Kräftigung seiner stets angeschlagenen Gesundheit - vollends nach einem Absturz im Gebirge im Jahre 1918 - erhielt, eine ausschlaggebende Rolle (37ff). Steiners Vortrag "Von Jesus zu Christus", den R. am Ende des Jahres 1911 in Nürnberg hörte und der eine Zusammenfassung des gleichlautenden und im gleichen Jahr gehaltenen Karlsruher Zyklus darstellte, war - trotz der anfänglichen "Enttäuschung" - die Grundlage für R.s neues Lebensprogramm (33f). So beschrieb er in seinem 1936 veröffentlichten "Christus"-Buch seinen Lebensweg als "Weg `von Jesus zu Christus`": vom Menschen Jesus im Sinn der liberalen Theologie zum kosmischen Christus im Sinne der Anthroposophie Rudolf Steiners.
Als er im August 1916 auf die Pfarrstelle an der "Neuen Kirche" in Berlin berufen wurde (358.365), hatte er vorher niemanden im Unklaren darüber gelassen, dass er "in den letzten Jahren ... der anthroposophischen Geistesbewegung nahegetreten" war (84). Seinen inneren Anschluss an Steiner datierte er auf das Jahr 1912. In Berlin geriet R. bald in theologische Isolation und in Gegnerschaft zu den Vertretern der liberalen Theologie, insbesondere zu seinem ehemaligen (und inzwischen geadelten) Lehrer Adolf von Harnack, der "für 'Mystik' im Grund gar kein Organ hatte" (370f). Die Loslösung R.s von der liberalen Theologie war allerdings bereits im Jahre 1910 erstmals in der Öffentlichkeit deutlich zum Ausdruck gekommen, als er auf Einladung der "Freunde der Christlichen Welt" seinen vielbeachteten Vortrag "Was fehlt der modernen Theologie?" hielt. Darin warf er den liberalen Theologen seiner Zeit "selbstgefällige Hypothesenlust" und "unreife Neuerungssucht" vor (263). Was die Person Jesu betreffe, so werde bei einem historisch-kritischen Verständnis "das eigentlich Gewisse und Große an ihm, seine unbedingte Gottentschlossenheit ... das ganze glühende Gottesleben, das in ihm war ... lange nicht genug empfunden" (265). R. fordert demgegenüber eine "neue Menschheit", die mit "Kräften" erfüllt ist, welche sie "herausheben aus ihrem bisherigen Leben" (265f). Nach dem Vortrag, so berichtet R., stand Ernst Troeltsch auf und sagte: "Wir haben wieder einmal einen Menschen reden hören, der aus seiner Haut heraus will, und das kann der Mensch eben nicht!" R. entgegnete ihm, dass er es sehr wohl könne: "Der Mensch soll gerade aus einer Haut heraus: und ich will aus meiner Haut und komme auch heraus, verlassen Sie sich darauf!" (267).
Den Höhepunkt der Auseinandersetzung und den endgültigen Bruch von Seiten der liberalen Theologie signalisiert ein Brief, den R. - bereits mitten in den Vorbereitungen zur Gründung der Christengemeinschaft stehend - im Jahre 1921 von A. v. Harnack erhielt. Dieser Brief, den R. auszugsweise wiedergibt, lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: "'Mythologie habe ich nie verstanden ernst zu nehmen; Primitives mutet mich samt und sonders so an wie das Schreitafel-Gekritzel der Abc-Schützen;... die Allegoristik erscheint mir wie die Ideenflucht von Ekstatischen zu gewünschten All-Einheiten',.. 'Eigentlich seid Ihr alle von der gleichen Art, soweit Ihr sie wirklich ernst und subjektiv wahrhaftig nehmt, oh Ihr Euch nun Joachim von Flures oder Steiner oder Thiersch oder R. nennt ... Euer Phlegma unterscheidet Euch; Euer Spiritus ist derselbe, und es tut auch nichts zur Sache, ob sich der Eine auf geschichtliche Offenbarung, der Andere auf Spezialoffenbarung, der Dritte auf seinen weiter ausgreifenden Verstand, der Vierte auf seine vordringende Erfahrung beruft. Auch das ist nur ein Kuchen"' (416). R. stellte diesen Aussagen die Frage entgegen, "ob die Erfahrung nicht erweitert und das Denken nicht gesteigert werden kann, so dass man auch die Mythologie' ernst zu nehmen versteht' und der Allegorie auch außerhalb der Irrenhäuser ein Recht zugestehen kann" (417). Hier sprach er bereits als Anthroposoph. So nahm er dann im Herbst 1922 seinen Abschied vom Dienst in der evangelischen Kirche und gründete zusammen mit 45 meist jüngeren Persönlichkeiten die Christengemeinschaft (419ff). Zum ersten Erzoberlenker ernannt, schrieb R. eine Reihe von Werken, in denen er sich um die Vermittlung zwischen Theologie und Anthroposophie, um ein neues Christusverständnis sowie um die Exegese verschiedener biblischer Schriften, insbesondere des Joh bemühte. Am 23.3.1938 starb er während einer Vortragsreise in Hamburg.
Zur Beurteilung s.: Christengemeinschaft; Anthroposophie; Erkenntnisse höherer Welten; Akasha-Chronik; Spirituelle Interpretation.
Lit.: F. Rittelmeyer, Aus meinem Leben, 1937; ders., Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner, 1983. - Kritisch: L. Gassmann, Anthroposophie, 2000; ders., Rudolf Steiner und die Anthroposophie, 2002.
Lothar Gassmann
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