Selbstverwirklichung im heutigen Sprachgebrauch bedeutet:
"Entfaltung der eigenen Persönlichkeit durch das Realisieren von Möglichkeiten, die in einem selbst angelegt sind" (laut Meyers großem Handlexikon).
Die Parolen
sind heute in aller Munde.
Ihnen gemeinsam ist, dass sie das Streben des Menschen zum Ausdruck bringen,
Der Mensch
Er hat in sich selbst
Er ist sich selbst genug.
Ist heute das Selbst des Menschen an die Stelle Gottes getreten? Heinzpeter Hempelmann nennt die Folgen des aufklärerischen und humanistischen Denkens der Neuzeit:
"Menschwerdung und Menschsein des Menschen sind nur möglich unter der Voraussetzung der Emanzipation des Menschen von Gott; Selbstverwirklichung ist nur denkbar unter der Voraussetzung der Gottesleugnung; Humanismus ist nur möglich als Atheismus." "Der Abnahme der Bedeutung des Gottesglaubens entspricht die Zunahme des Glaubens an den Menschen und seine - im Prinzip - unbegrenzten Fähigkeiten" (ThB 7/1985, 71ff.).
Der Begriff "Selbstverwirklichung" kann unterschiedlich gebraucht und interpretiert werden. Auf das Verhältnis von Einzelmensch und allgemeiner Ordnung blickend, stellt Hempelmann heraus, dass Selbstverwirklichung in der Antike, im Mittelalter und auch noch bei Kant "Entsprechung zu vorgegebenen Normen, Realisation von anerkannten Werten" bedeutete - und damit also auch in Beziehung zu Gott als Ordnungsgeber stand. Heute ist diese Dimension verlorengegangen.
"Für die Antike bis zu Kant ist ein vorgegebenes Allgemeines noch Bedingung der Möglichkeit der Selbstverwirklichung; heute versteht man dagegen allgemeine Ordnungen, Regeln und Gegebenheiten primär als Einengungen und Beeinträchtigungen der Möglichkeit, sich selbst zu verwirklichen."
"Die Aufklärungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts emanzipiert sich mehr und mehr vom Gottesgedanken und der mit diesem gegebenen ethischen und weltanschaulichen Orientierung" (ebd.)
Wenn wir heute das Wort "Selbstverwirklichung" gebrauchen, dann in seiner neuzeitlich geprägten Form, der die Dimension über dem Menschen (Gott) und zum großen Teil auch die neben dem Menschen (Mitmensch) verlorengegangen ist. Wir bezeichnen diese neuzeitliche Art der Selbstverwirklichung genauer als "menschlich-humanistische Selbstverwirklichung" oder einfach als "menschliche Selbstverwirklichung" (Verwirklichung dessen, was das autonome menschliche Selbst ausmacht). Der neuzeitliche, sich selbst verwirklichende Mensch will keinen Normgeber über oder neben sich anerkennen, sondern sein "eigener Herr sein". Er ist "verkrümmt in sich selber" (Luther) und in seinem eigenen Selbstbezug gefangen.
Nach allem bisher Gesagten könnte man vermuten, dass das, was wir heute als "Selbstverwirklichung" bezeichnen, eine typisch neuzeitliche Erscheinung sei. In Wirklichkeit jedoch ist die Sache, um die es geht, so alt wie die Menschheit.
"Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist" (1 Mo 3,5)
– dieser Satz ist das Zauberwort des Versuchers, mit dem er Menschen fasziniert (lat. fascinare = verzaubern). Seit Anbeginn der Zeiten möchte er Menschen dazu bringen, sich selbst zu verwirklichen, über sich selbst zu bestimmen, sich von Gott zu emanzipieren und autonom Gut und Böse festzulegen. Der Mensch soll die Stelle Gottes einnehmen. In seiner neuzeitlichen Selbstvergottung nun sieht sich der Mensch als Subjekt der Geschichte, als Schöpfer der Moral und als Schöpfer seiner Identität. Er verdrängt damit Gott als Geschichtslenker, als Normgeber und als Garanten von Identität und Sinn. Geschichtsnihilismus, Normenrelativismus, Identitäts- und Sinnkrise sind damit vorprogrammiert, weil sich der Mensch ohne Gott in Chaos und Verzweiflung verliert
Der Weg der menschlichen Selbstverwirklichung ist aber der Weg des Verderbens, weil er im Streben nach Selbstherrlichkeit den Weg des Kreuzes umgeht. Der Weg zum ewigen Leben führt nicht über die menschliche (Selbst-)Herrlichkeit, sondern einzig und allein über das Kreuz Jesu, das auch (und eigentlich) unser Kreuz ist. Eine neue Variante der Herrlichkeitstheologie (theologia gloriae) hat heute die Kreuzestheologie (theologia crucis) weitgehend verdrängt. Darin liegt der schlimmste Irrtum und die größte Schuld der Selbstverwirklichungsideologen. Der Weg der Selbsterhöhung ist der Weg Satans (Mt 4,8ff.), der Weg der Selbsterniedrigung hingegen der Weg Jesu (Phil 2,5ff.). Der Weg Satans ist geprägt von Selbststeigerung, Egoismus, Willkür und dem Glauben an sich selbst; der Weg Jesu ist geprägt von Selbsthingabe, Nächstenliebe, Rücksichtnahme und dem Glauben an Gott. Der Weg Satans ist der breite Weg, der zur Verdammnis führt; der Weg Jesu ist der schmale Weg, der zum ewigen Leben führt (Mt 7,13f.)
Lit.: L. Gassmann, Selbstverwirklichung - das Zauberwort in Psychologie und Seelsorge, 1999.
Lothar Gassmann
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