Die sogenannte "Konsequente Eschatologie", wie sie insbesondere von Johannes Weiss und Albert Schweitzer am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts konzipiert wurde, ist - trotz wesentlicher Unterschiede - nicht zu verstehen ohne die Vorarbeit des theologischen Liberalismus, vor allem in Gestalt der >Religionsgeschichtlichen Schule und der ethischen Reich-Gottes-Idee Albrecht Ritschls.
Wir werfen daher zunächst auf die Religionsgeschichtliche Schule einen kurzen Blick.
Die Religionsgeschichtliche Schule erlebte in den Jahren zwischen 1890 und 1920 ihre Hochblüte, bis ihr in Gestalt der >Dialektischen Theologie Karl Barths ein mächtiger Gegner erwuchs. Einflussreiche Vertreter waren etwa Otto Pfleiderer, Hermann Gunkel, Wilhelm Bousset, Wilhelm Baldensperger und Ernst Troeltsch. Kennzeichnend war die Einordnung des Alten und Neuen Testaments in die allgemeine Religionsgeschichte, z. B. der "Nachweis" der Verwandtschaft biblischer Texte mit babylonischen, iranischen, ägyptischen, hellenistischen oder gnostischen Quellen. Dabei wollten die einzelnen Autoren - in unterschiedlichem Maß - durchaus am Spezifikum des Judentums und Christentums festhalten. "Die Absolutheit des Christentums" - so der Titel einer Hauptschrift von Ernst Troeltsch - war freilich deutlich infrage gestellt. Sie wurde nur noch in einem vorläufigen — und damit relativen! - Sinne im Rahmen einer "Evolution der Religionen" festgehalten.
Im Blick auf die Eschatologie wurden eine kirchen-, welt- und reichsgeschichtliche ebenso wie eine heils- und endgeschichtliche Deutung, die alle mit wirklicher Zukunftsprophetie rechnen, radikal abgelehnt. Wilhelm Bousset (1865-1920) geht in seinem Kommentar "Die Offenbarung Johannis" (Göttingen 1896) so weit zu behaupten, dass die welt- und kirchengeschichtliche (supranaturalistische) Deutung ihre Anhänger nur noch "unter Auslegern zweiten und dritten Grades, bei englischen Kommentatoren und amerikanischen Traktatenschreibern" habe. Boussets eigener Ansatz hingegen ist rationalistisch-immanen-tistisch geprägt. Er verbindet die zeitgeschichtliche Deutung mit den religionsgeschichtlichen und hermeneutischen Ansichten seiner Zeit.
Sein hermeneutischer Ansatz stellt eine Synthese verschiedener Auslegungsmethoden dar:
"Die traditionsgeschichtliche und religionsgeschichtliche Betrachtungsweise soll nicht an Stelle, sondern neben die zeitgeschichtliche und literarkritische Methode treten".
Nach Boussets Vorstellung hat der Verfasser der Johannesoffenbarung "ältere apokalyptische Fragmente" (Literarkritik) und "Überlieferungen" (Traditionsgeschichte) verarbeitet. Die Lehre vom Tausendjährigen Reich etwa sei aus dem Iran in das Judentum eingedrungen. Der endzeitliche Drachenkampf in Apk 12 stamme aus babylonischer kosmologischer Mythologie, und der Antichrist sei eine Figur aus der babylonischen dualistischen Geheimtradition.
Gerhard Maier (Die Johannesoffenbarung und die Kirche, 1981, 537) fasst die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der klassischen Religionsgeschichtlichen Schule und der Konsequente Eschatologie in drei Punkten zusammen (Klammern: L.G.):
"Die Religionsgeschichtliche Schule will eine neue Methode in die Exegese einführen (nämlich die traditionsgeschichtliche Auslegung und den religionsgeschichtlichen Vergleich). Der Konsequente Eschatologie geht es um die konsequente Durchführung dieser Methode (nämlich den Aufweis der religionsgeschichtlichen Bedingtheit urchristlicher Naherwartungen). - Die Religionsgeschichtliche Schule versucht das Evangelium Jesu zu schonen (vgl. Hermann Gunkels Behauptung: ´Nicht das Evangelium Jesu, wie wir es vorwiegend aus den Synoptikern kennen, aber das Urchristentum des Paulus und des Johannes ist eine synkretistische Religion`; zit. nach Maier, 531). Die Konsequente Eschatologie wirft sich gerade auf das Evangelium Jesu. - Die Religionsgeschichtliche Schule betrachtet die Eschatologie als eines unter mehreren Gebieten des NT, und dazuhin als ein fremdartiges. Die Konsequente Eschatologie sieht in der Eschatologie den Wurzelboden, von dem her Jesus und seine Botschaft zu begreifen sind" (Maier, a.a.O., S. 537).
Dabei ist ein Gespür für den eschatologischen Charakter der Botschaft Jesu durchaus bei einzelnen Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule vorhanden. So vertritt Wilhelm Baldensperger (1856-1936) in seinem Buch "Das Selbstbewusstsein Jesu im Lichte der messianischen Hoffnungen seiner Zeit" (1888) die Meinung, das Selbstbewusstsein Jesu könne nur von der Betrachtung der messianischen Glaubenswelt des Judentums (z.B. der apokalyptischen Menschensohn-Erwartung bei Daniel und äthiopischem Henoch) her verstanden werden und die Reichspredigt Jesu habe unleugbar eine messianische eschatologische Färbung besessen. Dennoch gelangt Baldensperger noch nicht zu einer "Konsequente Eschatologie", sondern vermischt, wie Albert Schweitzer treffend analysiert, "das eschatologische und das spiritualistische Element". Baldensperger geht nämlich davon aus, dass Jesus "damit anfing, ein geistiges, unsichtbares Reich zu gründen, obgleich er seine Vollendung auf übernatürliche Weise erwartete ... Er nimmt an, dass Jesus, indem er sich den Titel Menschensohn beilegt, nicht nur an die transzendentale Bedeutung denkt, welcher diesem in der jüdischen Apokalyptik zukommt, sondern ihm zugleich eine allgemeine religiössittliche Färbung verleiht" (A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, , 9. Aufl. 1984, 253).
Demgegenüber sieht Albert Schweitzer (1875-1965) bei dem ebenfalls der Religionsgeschichtlichen Schule zugerechneten, aber in Fragen der Eschatologie weit über sie hinausgehenden Neutestamentler Johannes Weiss (1863-1914) die eschatologische Erwartung Jesu konsequent verwirklicht. Bei Weiss zeigt sich zum ersten Mal eine "Konsequente Eschatologie" - ohne Vermischung mit einer in der Gegenwart sittlich oder philosophisch zu verwirklichenden Reich-Gottes-Idee, wie sie etwa Albrecht Ritschl, der Schwiegervater von Johannes Weiss, konzipiert hatte.
Schweitzer meint zu Weiss` Buch "Die Predigt vom Reiche Gottes" (1892), es habe in seiner Art "dieselbe Bedeutung wie das erste Leben-Jesu von Strauss. Es stellt das dritte grosse Entweder-Oder in der Leben-Jesu-Forschung. Das erste hatte Strauss gestellt: entweder rein geschichtlich oder übernatürlich; das zweite hatten die Tübinger und Holtzmann durchgekämpft: entweder synoptisch oder johanneisch; nun das dritte: entweder eschatologisch oder uneschatologisch!" (Schweitzer, 254).
Worin liegt nun das Neue in Weiss` Konzeption? Er geht davon aus, dass Jesus ein zukünftiges Reich erwartete. Es sei eine rein überweltliche Größe, die zu dieser Welt in ausschließlichem Gegensatz stehe. Daher könne es nicht mit menschlichen Mitteln aufgerichtet werden, sondern nur durch einen übernatürlichen Eingriff Gottes. Aussagen Jesu über eine Gegenwart des Reiches (z.B. in Lk 17,20f.) seien "Augenblicke erhabener prophetischer Begeisterung, wo ihn ein Siegesbewusstsein überkommt" (zit. nach W. G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, 1970, 287).
Schweitzer fasst Weiss` Ansatz mit folgenden Worten zusammen:
"Alle modernen Ideen, auch in den subtilsten Formen, sind aus ihr (sc. der Reich-Gottes-Idee) zu eliminieren; dann bekommt man ein Reich Gottes, das rein zukünftig ist, entsprechend der Bitte des Herrengebets: dein Reich komme. Als zukünftiges ist es jetzt rein überweltlich. Gegenwärtig ist es nur wie eine Wolke, die ihren Schatten auf die Erde wirft ... Er (Jesus) ´gründet es (das Reich Gottes) nicht`, er verkündigt es bloss. Er übt keine ´messianische Tätigkeit` aus, sondern er wartet mit den andern, dass Gott es auf übernatürliche Weise heraufführe. Nicht einmal Zeit und Stunde weiss er, wann dies geschehen soll" (Schweitzer, 255).
Trotz des letzten Satzes sind sich sowohl Weiss als auch Schweitzer, der im wesentlichen an Weiss anknüpft, sicher, dass Jesus das Kommen des Reiches Gottes sehr bald - zu Lebzeiten seiner Jünger - erwartete. Mit dieser Erwartung jedoch habe er sich - geirrt: "... die Nähe war ferner, als Jesus damals dachte", kann Schweitzer sagen (a.a.O.). Die Parusieverzögerung (Verzögerung der Wiederkunft Jesu Christi) ist zu einem Hauptproblem der Theologie geworden. Weiss zieht daraus folgende Konsequenz:
"Wir warten nicht auf ein Reich Gottes, welches vom Himmel auf die Erde herabkommen soll und diese Welt vernichten, sondern wir hoffen, mit der Gemeinde Jesu Christi in die himmlische basileia versammelt zu werden."
Für dieses Leben auf Erden bleibt maßgeblich das "Motiv der neuen Sittlichkeit" als "Bedingung für den Eintritt in das Reich Gottes". Hier klingen Ritschlsche Gedanken an, aber der Unterschied liegt in der futurischen Ausrichtung der Sittlichkeit: Sie entsteht nicht als sittliche Vollkommenheit in einem gegenwärtigen (fast pseudomessianischen) Reich wie bei Ritschl, sondern auf der Grundlage der Umkehr in der Ausrichtung auf die erwartete eschatologische Gottesherrschaft (zit. nach Maier, 538f.).
Schweitzer zieht folgendes Resümee: "Die eschatologische Einsicht von Johannes Weiss hat die moderne Auffassung zerstört, als ob Jesus das Reich Gottes gründete. Sie schaffte alle ´Aktivität` auf das Reich Gottes ab, und macht Jesus zum lediglich Abwartenden. Nun kehrt die Aktivität, aber jetzt eschatologisch bedingt, wieder in die Reichspredigt zurück" (Schweitzer, 415). "Die ganze Geschichte des ´Christentums` bis auf den heutigen Tag, die innere, wirkliche Geschichte desselben, beruht auf der ´Parusieverzögerung`: d.h. auf dem Nichteintreffen der Parusie, dem Aufgeben der Eschatologie, der damit verbundenen fortschreitenden und sich auswirkenden Enteschatologisierung der Religion" (a.a.O., 417). "Die Tat Jesu besteht darin, dass seine natürliche und tiefe Sittlichkeit von der spätjüdischen Eschatologie Besitz ergreift und so dem Hoffen und Wollen einer ethischen Weltvollendung in dem Vorstellungsmaterial jener Zeit Ausdruck gibt" (a.a.O., 624).
Schweitzer vertritt - in Anknüpfung an Weiss - als Konsequenz der "Konsequente Eschatologie" eine "ethische Eschatologie", beruhend auf der Ethik der Bergpredigt als einer "Interimsethik" und der "Jesusmystik" als Erkenntnis gemeinsamen Wollens: "Wir geben der Geschichte ihr Recht und machen uns von seinem (Jesu! L. G.) Vorstellungsmaterial frei. Aber unter den dahinter stehenden Willen beugen wir uns und suchen ihm in unserer Zeit zu dienen, dass er in dem unsrigen zu neuem Leben und Wirken geboren werde und an unserer und der Welt Vollendung arbeite. Darin finden wir das Eins-Sein mit dem unendlichen sittlichen Weltwillen und werden Kinder des Reiches Gottes" (a.a.O., 628).
Zur Beurteilung der Konsequente Eschatologie, wie sie von Johannes Weiss und Albert Schweitzer ausgebildet wurde, ist zu sagen: Sie erkennt richtig, dass das Reich Gottes nach neutestamentlicher Aussage nicht ein gegenwärtig-immanentes, vom Menschen zu schaffendes, sondern ein zukünftig-transzendentes, von Gott herbeizuführendes Gebilde ist. Sie erkennt auch, dass die Naherwartung dieses Reiches in etlichen alt- und neutestamentlichen Stellen anklingt (z.B. Jes 13,6; Hes 12,23; Mt 3,2; 4,17; 24,33; Mk 1,15; Lk 10,11; Röm 13,12; Phil 4,5; 1. Thess 5,2; 1. Petr 4,7; Apk 1,3). Aber sie verabsolutiert diese Erkenntnisse in einseitiger Weise - und gelangt dadurch zu falschen Ergebnissen. Nach dem Zeugnis der neutestamentlichen Schriften ist das Reich Gottes zwar eine zukünftige Größe, aber es ist doch schon anbruchsweise in den Herzen und in der Gemeinde der Gläubigen gegenwärtig. Das bringt etwa Lk 17,20 f. deutlich zum Ausdruck: "Als er (Jesus) von den Pharisäern gefragt wurde: Wann kommt das Reich Gottes? antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man`s beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es! oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch" (oder: "in euch" — "entos hymin"). Die Gemeinde Jesu lebt in der Spannung zwischen dem "Schon jetzt" und dem "Noch nicht", dem Angebrochensein der Christusherrschaft durch Jesu erstes Kommen und der sichtbaren Vollendung seiner Herrschaft bei seiner Wiederkunft (vgl. Joh 4,23; 5,25; 16,32). Horst-Georg Pöhlmann betont zu Recht: "Das Eschaton ist im Kern die Gemeinschaft mit Christus, die der Christ schon jetzt erfährt und die ihm einst in ungebrochener Weise geschenkt wird" (Abriss der Dogmatik, 1980, 336).
Ferner betont das Neue Testament die Naherwartung nicht in der einseitigen Weise, wie es bei der Interpretation von Weiss und Schweitzer scheint. Grundlegend zum Verständnis der urchristlichen Naherwartung ist etwa der Ausspruch Jesu: "Von dem Tage aber und von der Stunde weiss niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater" (Mt 24,36). Der Zeitpunkt, an dem die Gottesherrschaft sichtbar aufgerichtet wird, ist und bleibt also ein in Gottes Vaterwillen verborgenes Geheimnis, selbst für den Sohn in seiner irdischen Existenz, für die Engel und natürlich auch für die neutestamentlichen Verfasser. Von daher verbietet sich jede Berechnung eines Wiederkunftstermins Jesu Christi (ob fern oder nah!) vehement.
Manche Aussagen im Neuen Testament klingen nun freilich tatsächlich so, als würde die Aufrichtung des Reiches Gottes noch in der Generation der ersten Jünger oder bald darauf erwartet (s.o.). Aber es sind allesamt Aussagen der Hoffnung, die seither jede Generation bewegt hat, und nirgends wird eine Dogmatik daraus gemacht. Zu behaupten, Jesus und die Apostel hätten sich geirrt, wird daher dem neutestamentlichen Zeugnis nicht gerecht. Das verwehren vollends die Aussagen Jesu und seiner Jünger, die vor einer zu frühen Erwartung des Gottesreiches warnen. Diese andere Linie im Neuen Testament wird von Weiss, Schweitzer und ihren Nachfolgern weitgehend unterschlagen. Nur einige Beispiele dafür seien genannt.
In Matthäus 24 parr., der sogenannten "Endzeitrede", warnt Jesus vor falschen Christussen und falschen Propheten, die auftreten und behaupten werden, das Reich Gottes sei schon gekommen. Ihnen soll man nicht glauben (VV. 24-27). Im gleichen Kapitel werden viele weitere Zeichen aufgezählt, die sich erst erfüllen müssen, bevor Jesus wiederkommt, und die sich keineswegs alle zeitgeschichtlich auf die Generation der zur Zeit Jesu Lebenden deuten lassen, etwa Kriege, Hungersnöte und Erdbeben: "Das alles aber ist der Anfang der Wehen" (V. 7f.). Das Ende wird erst kommen, wenn die Evangeliumsverkündigung, die Mission aller Stämme, Sprachen und Nationen zu ihrem Ziel gelangt ist (V. 14; vgl. Apk 7,9).
Die Aussage Jesu
"Dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis dass dies alles geschehe" (Mk 13,30)
hingegen bezieht sich wahrscheinlich nur auf die näher liegenden Ereignisse (Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 n. Chr. und Zerstreuung der Juden). Nah- und Fernerwartung durchdringen in der Endzeitrede Jesu einander und sind auseinanderzuhalten.
Auch in den Briefen des Neuen Testaments finden sich mehrere Stellen, die der Behauptung einer einlinigen Naherwartung in urchristlicher Zeit klar widersprechen. Am bekanntesten ist folgende Passage in 2. Petr 3,8 f., die - geht man von der im Brief selber bezeugten Verfasserschaft durch den Apostel Petrus aus - keineswegs allzu spät datiert werden darf:
"Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, dass ein Tag vor dem Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag. Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Busse finde. Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden ihr Urteil finden." -
Vgl. auch Act 1,6-8; 2. Thess 2,2ff.; Tit 1,14; 1. Tim 1,3f.; 4,7; 2. Tim 4,4 u.a.
Die letzte Konsequenz, zu welcher die Konsequente Eschatologie - zumindest bei einigen Schülern Schweitzers - führt ist der Ersatz des im Grunde gar nicht mehr erwarteten Reiches Gottes durch das Werk des Menschen. Schon bei Weiss und Schweitzer ist diese Linie vorgezeichnet: Die Christusmystik tritt an die Stelle einer zukünftigen Reich-Gottes-Erwartung. Die Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben" wird zu einem Versuch, die vollkommene, friedliche Welt, die ursprünglich mit der Naherwartung des Reiches Christi verbunden war, selber Schritt für Schritt zu schaffen. Die Gefahr eines proleptischen Messianismus (utopisches Streben nach einer Vorwegnahme des messianischen Friedensreiches Jesu Christi) klingt hier an. Insofern berührt sich die Konzeption Weiss` und Schweitzers am Ende doch mehr mit der sittlichen Reich-Gottes-Idee Ritschls, als es die Vertreter der Konsequente Eschatologie wahrhaben wollen. Kants Idee des sittlichen Reiches und Schopenhauers Willensmystik fließen als philosophische Impulse ein.
Der Schweitzer-Schüler Fritz Buri nun hat in seinem Buch "Die Bedeutung der neutestamentlichen Eschatologie in der neueren protestantischen Theologie" (1935) die Gedanken seines Lehrers radikalisiert. Für ihn fällt mit der endgeschichtlichen Naherwartung des Neuen Testaments durch die nicht eingetretene Parusie auch der Glaube an Christus im biblischen Sinn dahin. An seine Stelle tritt die "Ehrfurcht vor dem Schöpfungsgeheimnis als Wirken im Sinne der Ehrfurcht vor dem Leben". Christus ist für Buri lediglich ein Symbol für die "schöpfungsmäßige Möglichkeit aktueller Sinnverwirklichung mitten in der Sinnlosigkeit der Welt", und zwar durch "tätiges und leidendes Wirken im Sinne der Ehrfurcht vor dem Leben".
"Frei von den kommenden Illusionen der neutestamentlichen Eschatologie bringt die ... Formel von der besonderen Sinnermöglichung des Daseins durch das Stehen in der Ehrfurcht vor dem Schöpfungsgeheimnis das wichtigste Anliegen der neutestamentlichen Eschatologie voll und ganz zur Entfaltung" (a.a.O., 170 ff.).
Hier ist Eschatologie zur Ethik reduziert und der zweite Glaubensartikel ("Von Christus") zugunsten eines verflachten ersten ("Von Gott dem Schöpfer") preisgegeben. Damit aber wird das neutestamentliche Zeugnis gerade verfehlt. Nochmals sei Horst-Georg Pöhlmanns Feststellung zitiert: Fritz Buri "gehört zusammen mit J. Weiss, A. Schweitzer und M. Werner zu der Gruppe der Theologen, die eine Konsequente Eschatologie ... verfechten". Die Konsequente Eschatologie, wie sie bei diesen begegnet, ist aber nichts anderes als eine "konsequente Ausscheidung der Eschatologie aus der Theologie" (Pöhlmann, a.a.O., 313).
S. auch: Eschatologie; Wiederkunft Jesu Christi; Zeichen der Zeit.
Lit.: L. Gassmann, Was kommen wird. Eschatologie im 3. Jahrtausend, 2002.
Lothar Gassmann
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