Die zeitgeschichtliche tritt der end- oder heilsgeschichtlichen Deutung (Eschatologie, Hermeneutik) schroff gegenüber. Sie rechnet nicht mit wirklicher Zukunftsprophetie, sondern bezieht die an den prophetischen und apokalyptischen Stellen der Bibel gemachten Aussagen auf die Gegenwart oder unmittelbare Zukunft der Verfasser, deren Entwicklung sich von diesen erahnen läßt. Wo das nicht möglich ist, wird die Entstehungszeit der betreffenden biblischen Partien oder Schriften (z.B. Daniel) so spät angesetzt, daß sich die darin vorkommenden Zukunftsaussagen möglichst mühelos als vaticinia ex eventu ("Weissagungen" aufgrund der schon eingetroffenen Ereignisse) einordnen lassen. Die zeitgeschichtliche Deutung ist eine typische Interpretationsmethode im Gefolge der Aufklärung und des Rationalismus. Sie hat in historisch-kritischen Systemen bestimmenden Einfluß erlangt (Bibelkritik). Neuerdings wird sie auch von konservativen Vertretern (z.B. aus dem Bereich des >Rekonstruktionismus) vereinzelt vertreten.
Zum Durchbruch verhalf ihr ein Schüler >Schleiermachers, der Neutestamentler, Kirchengeschichtler und Systematiker Friedrich Lücke (1791-1855). Lücke selber ging zwar noch davon aus, daß die Johannesapokalypse "im Allgemeinen ein Werk des neutestamentlichen prophetischen Geistes im apostolischen Zeitalter" ist. Aber diese Prophetie reicht nicht über das erste Jahrhundert hinaus: Der Verfasser der Apokalypse will nur "den näheren, zum Theil schon gegenwärtigen historischen Process in seiner besonderen Zeitperiode darstellen", aber nicht "den universal-historischen Process bis in die fernste Zukunft weissagen". Der Zweck der Apokalypse begrenzt sich streng "auf den damahligen Stand der christlichen Zukunftshoffnung in dem Johann. Gemeindekreise" (F. Lücke, Versuch einer vollständigen Einleitung in die Offenbarung des Johannes oder Allgemeine Untersuchungen über die apokalypti-sche Literatur überhaupt und die Apokalypse des Johannes insbesondere, Bd. 2, Bonn, 2. Aufl. 1852, S. 367.394.433).
Als Beispiel für den Einfluß der zeitgeschichtlichen Deutung in der neueren historisch-kritischen Theologie zitiere ich einige auf die Johannesapokalypse bezogene Passagen aus dem Standardwerk von Werner Georg Kümmel (Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg, 21. Aufl. 1983). Kümmel nennt als wahrscheinlichste Entstehungszeit der Apokalypse die Regierungszeit des römischen Kaisers Domitian (81-96 n. Chr.), die durch Kaiserkult und schwere Bedrängnisse für die Christen gekennzeichnet war, und führt aus:
"Der prophetische Seher, der in der Apk spricht, schreibt ein Trostbuch für die Kirche, die im Begriffe steht, Märtyrerkirche zu werden. Dazu deutet er die Ereignisse der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit und weissagt die Entwicklung der Dinge in der kurzen Zeitspanne bis zum Weltende mit der Aufrichtung der Gottesherrschaft. Eine bestimmte Lage urchristlicher Gemeinden, die in kürzester Frist zur blutigen Verfolgung der ganzen Christenheit führen muß, und der siegesgewisse Ausblick über die kommende Leidenszeit hinweg auf die nahe Parusie Christi und der Vernichtung aller widergöttlichen Mächte geben sicheren Anhalt für die Erklärung, die die Apk selbst fordert. Die Apk ist ein Buch ihrer Zeit, aus dieser Zeit und für diese Zeit geschrieben, nicht für ferne Generationen der Zukunft oder gar der Endzeit. Sie ist eine Gelegenheitsschrift so gut wie die Briefe des NT, die darum grundsätzlich zeitgeschichtlich verstanden sein will, womit sich der Blick für ihre apokalyptische Traditionsbestimmtheit und ihre neue christlich-prophetische Schau zu verbinden hat" (a.a.O., S. 408).
Wie sich diese zeitgeschichtliche Deutung im einzelnen gestaltet, sei durch folgende Beispiele bei Kümmel demonstriert:
"Der Schauplatz ist die Erde, genauer die vom römischen Imperium beherrschte Welt, insbesondere der Ausschnitt aus ihr, in dem Johannes lebt, die Provinz Asia. Die christliche Gemeinde und die heidnische Staatsmacht stehen einander in scharfem Gegensatz gegenüber. Der römische Staat liefert die Farben für das Tier, den erbitterten Feind der Kirche 13,1ff, das heidnische Rom für die Dirne, die auf dem Tier sitzt 17,1ff. Rom schickt sich zum Angriff auf das Christentum an: die Gemeinden Kleinasiens haben unter seinen Angriffen zu leiden 2,3.10; 3,8, in Pergamon ist schon Märtyrerblut geflossen 2,13 ... Aber diese Ereignisse der Vergangenheit und Gegenwart sind nur das leise Vorspiel des kommenden großen Entscheidungskampfes, den die nächste Zukunft bringen wird, die Stunde der Prüfung, die über den ganzen Weltkreis kommen wird 3,10 ... Das Tier mit den 7 Köpfen und 10 Hörnern, das aus dem Meere aufsteigt, dieses apokalyptische Symbol des Imperium Romanum ... ist der Diener des Teufels, der Vollstrecker seines Willens auf der Erde 13,2. Das römische Kaisertum ist die satanische Weltmacht, weil es Kaiseranbetung pflegt und fördert 13,4ff ... mit gutem Grund erblickt man in dem zweiten Tiere, dem falschen Propheten 16,13; 19,20; 20,10, die Kaiserpriesterschaft der Provinz (oder einen einzelnen aus ihrer Mitte) mit ihrer fanatischen Förderung des Kaiserkultes" (a.a.O., S. 405 f.).
Kümmel schließt eine Zukunftsdeutung nicht aus, beschränkt diese aber auf die nächste, voraussehbare Zukunft. Die apokalyptischen Beschreibungen und Begriffe werden auf die Zeit des römischen Imperiums im ersten Jahrhundert nach Christus bezogen oder, wo das nicht möglich ist (z.B. "Tausendjähriges Reich", "himmlisches Jerusalem") , als allgemeine apokalyptische Schemata (ohne konkrete Erfüllung) aus der Traditionsgeschichte bewertet.
Diese Deutung enthält — so denke ich — nur eine Teilwahrheit. Gewiß ist die Johannesapokalypse wie auch die andere biblisch-apokalyptische Literatur in ihrer jeweiligen Zeit entstanden und zu den Menschen ihrer Zeit gesprochen — aber nicht nur zu diesen! Ihr Horizont reicht weit über die damalige (und heutige) Gegenwart hinaus. Gewiß weist beispielsweise das römische Imperium bestimmte Züge der christusfeindlichen und christenverfolgenden Weltmacht auf. Aber die Erfüllung der prophetischen Voraussagen bezieht sich nicht nur auf das antike Rom. Rom dient vielmehr als Typos oder "Vor-Bild" (im negativen Sinne) für analoge endgeschichtliche Ereignisse in viel größerem Maßstab.
Wer die Johannesoffenbarung nur zeitgeschichtlich liest, muß viele ihrer Aussagen spiritualisieren (im übertragenen Sinne deuten) oder die Zeitgeschichte so lange zurechtbiegen, bis sich biblische Aussagen und zeitgeschichtliche Ereignisse zusammenordnen lassen. Das ist aber in vielen Fällen nur gewaltsam möglich (vgl. z.B. die bis heute noch nicht eingetroffenen globalen kosmischen Gerichte in Apk 6.8f.15f. sowie die Schwierigkeit Kümmels, S. 413f., die römischen Kaiser vor Domitian in Apk 17,9-11 unterzubringen). Ich stimme daher der Kritik Adolf Pohls an der zeit-geschichtlichen Deutung zu:
"Hier fehlt der Zugang zur biblischen Prophetie überhaupt. Niemals steckte die biblische Prophetie im Gefängnis einer einzigen Situation, immer lebte sie im Gesamtzusammenhang der Gottesherrschaft. Auch Johannes war nicht durch seine Lage abgesperrt von jeder anderen Situation. Er vermochte nicht deswegen so konkret zu jenen Gemeinden in der Provinz Asien zu sprechen, weil er von allen anderen Gemeinden und Zeiten absah, sondern umgekehrt: Aus dem Gesamtzusammenhang der Gemeinde Jesu Christi zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft bringt er Licht auch in jenen Raum und in jene Stunde."
Pohl nennt zwei Beispiele:
"Ganz deutlich trug das damalige Rom die Züge von ´Babel`. Das bedeutete aber nicht, daß ´Babel`, dieser uralte Verkündigungsbegriff der Bibel, in Rom aufgeht, sondern eben nur, daß Rom antichristliche und endgeschichtliche Züge trug. Darum ist ´Babel` auch nicht mit Rom untergegangen, und darum predigt die Offenbarung auch heute ungebrochen von ´Babel`. — Deutlich trug die damalige kaiserliche Priester-schaft Züge des ´falschen Propheten` an sich. Dies bedeutet wiederum nicht, daß Johannes nur sie im Auge hatte und daß nur diese Priesterschaft der ´falsche Prophet` war; vielmehr nur, daß sie es auch war. Auch der ´falsche Prophet` gehört seit Bileam zu den Verkündigungsbegriffen im Volke Gottes."
Und Pohl folgert:
"Johannes prophezeite wohl auch, aber nicht nur über das eine Jahrzehnt, sondern über zwei Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende — er wußte die Zeitdauer so wenig wie wir. Er prophezeite eben für die Zeit der Gemeinde, die seit Ostern im entfalteten Ende steht. Und dieser Gemeinde gilt, wie lange sich auch ihre Zeit erstreckt, das prophetische ´bald`. Das prophetische ´bald` wandert die ganze Strecke mit, läßt sich je und je zu Vorerfüllungen nieder, erhebt sich wieder, bis es zur Letzterfüllung kommt. Die ausschließlich zeitgeschichtliche Auslegung fällt mit unter das Urteil der historisierenden Auslegungen" (A. Pohl, Die Offenbarung des Johannes, Bd. 1, Wuppertal, 4. Aufl. 1977, S. 51 f.).
S. auch: Hermeneutik der Prophetie-Auslegung
Lothar Gassmann
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