Weil sich die Evangelikalen mit einer falschen Heilslehre der Ökumene nicht abfinden konnten, führten sie nach der theologischen Wende des >Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) ab den 1960er Jahren eigene Weltmissionskonferenzen durch. Die bedeutendste davon ist Lausanne 1974, die zur bekannten »Lausanner Verpflichtung« führte. Diese Verpflichtung ist eine Art Manifest der Evangelikalen, die sie ursprünglich von der ökumenischen Bewegung unterschied und zu einer eigenen »Lausanner Bewegung« geführt hat. Die Lausanner Verpflichtung distanziert sich deutlich von dem falschen ökumenischen Evangelium, z. B. in ihrem Punkt 3 »Einzigartigkeit und Universalität Jesu Christi« in Anspielung auf Römer 1,18ff. Dort heißt es:
"Zwar wissen wir, dass alle Menschen aus der allgemeinen Offenbarung in der Natur Gott erkennen können, aber wir bestreiten, dass sie dies erretten kann, denn sie unterdrücken die Wahrheit durch Ungerechtigkeit. Als Herabsetzung Jesu Christi und des Evangeliums lehnen wir jeglichen Synkretismus ab und jeden Dialog, der vorgibt, dass Jesus Christus gleichermaßen durch alle Religionen und Ideologien spricht."
So klar dieses Bekenntnis ist, so ist es doch umso erstaunlicher, dass die evangelikale Bewegung heute wieder eng mit der Weltökumene vernetzt ist und die Maschen dieses Netzes immer enger werden. Man muss sich fragen, ob bei der Lausanner Bewegung nicht von Anfang an die Weichen falsch gestellt waren. Iain Murray schreibt: "Arthur P. Johnston, ein Bewunderer [des Kongressleiters] Billy Grahams und Lausanne-Teilnehmer, räumte ein, dass zwar »die Theologie Lausannes grundsätzlich gesund und klar war«, doch der Kongress »die Türen für breit gefasste evangelikale Ansichten öffnete«. Er glaubte, dass der Kongress Kompromisse mit denen gemacht habe, die nicht zur Verbalinspiration der Schrift stehen sowie mit ökumenischer Theologie, und zwar in den Aussagen über soziales Engagement und über die Notwendigkeit kirchlicher Einheit.« …" Ein Hauptredner des Lausanner Kongresses von 1974 bekräftigte die Notwendigkeit »eines katholischen Evangelikalismus« und fuhr fort:
»Die Zeit ist weltweit reif für das Aufkommen einer tief biblischen evangelikalen Bewegung, die sowohl Katholiken als auch Protestanten einschließt … Die biblischen und charismatischen Betonungen des Katholizismus im Fahrwasser des II. Vatikanischen Konzils heben sofort viele traditionelle protestantische Vorbehalte auf.«
Bei der Lausanner Missionskonferenz waren viele teilnehmende Personen, Organisationen und Kirchen ebenfalls mit dem ÖRK verbunden. Einige ÖRK-Funktionäre und katholische Priester waren eingeladen. Mit Billy >Graham führte ein Mann den Vorsitz, der für seine guten Beziehungen zum Vatikan bekannt ist und der den Papst als »weltweit größten Evangelisten« bezeichnete. Graham gilt als »Katalysator, der Einzelpersonen und Bewegungen zusammenbringen und einen Prozess der Verschmelzung in Gang setzen konnte.« Dieser Verschmelzungsprozess zwischen evangelikaler und ökumenischer Bewegung befindet sich inzwischen offenbar bereits im fortgeschrittenen Stadium.
So ist auch die Lausanner Bewegung mehr von Integration geprägt als von klarer Distanzierung (Absonderung). Sie vereinte sofort >Evangelikale, Pfingstler und Charismatiker und rief auch schon bald
>Adventisten und >Katholiken in ihre Gemeinschaft. Sie praktiziert Einheit auf Kosten der Wahrheit. Auf dem Nachfolgekongress von Lausanne, dem Missionskongress »Lausanne II« 1989 in Manila, wurde die stark charismatisch geprägte Bewegung AD2000 ins Leben gerufen unter dem Motto »Das ganze Evangelium der ganzen Welt durch die ganze Gemeinde«. Die notwendige Folge war eine »Koalition für Evangelisation«, d. h. ein ökumenischer Schulterschluss und ein Netzwerk unter Christen aller Konfessionen. Es bleibt unausweichlich, dass dieses Netz auch mit der großen ökumenischen Bewegung verwoben ist. Die großen Strukturen und Organisationen, die die Evangelikalen weltweit geschaffen haben, erfordern nicht nur Berührungspunkte mit der Ökumene, sondern ein Miteinander: »Der ÖRK hat Gaststatus beim evangelikalen Lausanner Komitee für Weltevangelisation. Evangelikale werden vom ÖRK konsultiert und akzeptiert.«
In Deutschland nennt sich die Lausanner Bewegung seit November 2002 »Koalition für Evangelisation in Deutschland«. Typische Arbeitsbereiche dieser Koalition sind z. B. die Aktion >ProChrist, das >Willow-Creek-Konzept und die >Alpha-Kurs-Bewegung. Alle drei Bereiche sind für ihren integrativen, ökumenischen Ansatz bekannt, der deutlich mehr Wert auf eine umfassende Einheit legt als auf Treue zur Wahrheit und daher auch die römisch-katholische Spielart des Christentums mit einschließt.
Lit.: E. Brüning / H.-W. Deppe / L. Gassmann, Projekt Einheit. Rom, Ökumene und die Evangelikalen, 2004.
Hans-Werner Deppe
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