Evangelikale und Ökumene

HANDBUCH ORIENTIERUNG: Religionen, Kirchen, Sekten, Weltanschauungen, Esoterik.Es ist üblich geworden in Deutschland und weltweit, die protestantischen Gruppen, Bewegungen und Persönlichkeiten, die sich im weitesten Sinne zur Basis der >Evangelischen Allianz bekennen, als Evangelikale zu bezeichnen. Das sind die meisten Freikirchen und freien christlichen Werke in Evangelisation und äußerer Mission. Die größte evangelikale Bewegung Deutschlands ist die pietistische Gemeinschaftsbewegung, die sich mit ihren Verbänden und Einrichtungen zum größten Teil zum Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverband hält. Pietisten wie Freikirchlern gefällt diese Einordnung oft nicht, da jede der Gruppen durchaus unterschiedliche theologische Akzente setzt. Sind die meisten Freikirchen angelsächsischem Gemeindeverständnis und angelsächsischer Theologie verwandt, so sieht die Deutsche Gemeinschaftsbewegung ihre Wurzeln in der Reformation und im Pietismus. Weltweit haben sich die Evangelikalen vielfältige Strukturen geschaffen. Besonders wichtig ist die Weltweite Evangelische Allianz (World Evangelical Fellowship / WEF) und das Lausanner Komitee für Weltevangelisation (Lausanner Bewegung).

Waren die Evangelikalen anfänglich der modernen ökumenischen Entwicklung, wie sie im Umfeld des >ÖRK oder der Katholischen Kirche verstanden wird, gegenüber zurückhaltend, so haben sie sich inzwischen größtenteils sowohl mit den Nationalen Christenräten (in Deutschland dem >ACK), wie mit anderen ökumenischen Aktivitäten arrangiert. Der ÖRK hat mittlerweilen Gaststatus beim evangelikalen Lausanner Komitee für Weltevangelisation. Evangelikale werden vom ÖRK konsultiert und akzeptiert. Es gibt sogar, zumindest über die persönliche Schiene, freundschaftliche Beziehungen zwischen Evangelischer Allianz und Katholischer Kirche.

In Deutschland tragen die Satellitenevangelisationen ProChrist schon lange ökumenischen Charakter. Vom evangelikalen Pro Christ Komitee wird den Verantwortlichen vor Ort empfohlen, wenn ein Katholik sich während der Veranstaltung bekehrt oder Seelsorge sucht, ihn an seine katholische Kirchengemeinde zu vermitteln. Ohne sich darauf zu berufen, kommt man hier den Vorstellungen des Proselytendekrets von 1961 nach. Dieses Dekret ist vom ACK, zu dem auch die Katholische Kirche gehört, übernommen worden. Selbst bei den Allianzgebetswochen wirken katholische Geistliche — auch in voller Amtstracht — mit. An vielen Orten beteiligen sich Freikirchen und Landeskirchliche Gemeinschaften an ökumenischen Bibelwochen, Gottesdiensten usw. Auch theologisch hat dies Konsequenzen. Die Evangelische Allianz begrüßt regelmäßig päpstliche Äußerungen zu Lebensrechtsfragen. Der Präses des Gnadauer Verbandes, Pfarrer Christoph Morgner, stellte sich im Frühjahr 1998, trotz einiger Bedenken, hinter die >Gemeinsame Erklärung von Lutheranern und Katholiken zur Rechtfertigungslehre.

Konnte man bis in die 70er Jahre bei der Ökumene in Deutschland mehr von einer Veranstaltung auf kirchenleitender Ebene sprechen, die kaum etwas mit der Praxis vor Ort zu tun hatte, so ist dies seit 1980 anders. 1980 fand das sogenannte Missionarische Jahr statt. Gemeinsame missionarische Veranstaltungen von sich zur Evangelischen Allianz zählenden Gruppen und Organisationen sowie katholischen Kreisen führten zusammen. Seither hat sich die Zahl der örtlichen ACK-Gruppen auf über 1000 erweitert. In allen Bundesländern ist der ACK heute auf regionaler Ebene organisiert. Die katholische Lebensrechtsbewegung, die katholische Evangelisationskampagne, die auch vom Papst unterstützt wird, und viele andere katholische Aktivitäten wirken anziehend auf Evangelikale. Man ist vom päpstlich unterstützten Gedanken der Reevangelisierung Europas beeindruckt. Dabei übersieht man leicht, daß Evangelisation nach päpstlichem Verständnis Rückführung in die Römische Kirche und Teilhabe an deren Sakramenten, durch die angeblich die Gnade weitergegeben wird, ist (Rückkehr-Ökumene nach Rom).

Durch charismatische Gruppen wurden auch in Deutschland die sogenannten Jesusmärsche populär. Sie gehören in deren Terminologie zur sogenannten >Geistlichen Kriegsführung, wie sie seit der sogenannten >Dritten Welle in extrem pfingstlerischen und charismatischen Kreisen zuhause ist. Durch Proklamationen bestimmter Territorien in Ländern, Orten und auf der Erde werden sie angeblich der Herrschaft dämonischer Wesen entzogen und der Herrschaft Gottes unterworfen. Die Katholische Kirche praktiziert Ähnliches in ihren Wallfahrten, bei Weihen und den Exerzitien. Standen die pietistisch geprägten Evangelikalen diesen Märschen bisher zurückhaltend gegenüber, so gibt es jetzt eine Vereinbarung zwischen den bisherigen Veranstaltern des Jesusmarsches und Vertretern der Allianz, so daß es im Jahr 2000 erstmalig einen Jesusmarsch gab, an dem Pietisten, Freikirchler, Pfingstler, evangelische und katholische Charismatiker teilnahmen.

Daß die sogenannten Evangelikalen in früheren Jahrzehnten der Genfer ökumenischen Bewegung gegenüber ablehnend gegenüberstanden, dürfte geschichtlich klar sein. Nach der Weltmissionskonferenz in Bangkok 1973 kam es weltweit zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Evangelikalen und Ökumenikern. In Deutschland wurde die Frankfurter Erklärung zur Grundlagenkrise der Mission als theologische Antwort der Evangelikalen auf die antimissionarischen Auswüchse der Ökumene verfaßt. In Lausanne kam 1974 die erste weltweite evangelikale Missionstagung auf Billy Grahams Initiative hin zusammen. In Deutschland schlossen sich die evangelikalen Missionen, die mehr als ľ der deutschen Missionare vertreten, zur Konferenz Evangelikaler Missionen zusammen.

Allerdings war die antiökumenische Front nie ganz geschlossen. Die Methodisten scherten schon lange aus dem Kreis aus. Die Baptisten und Freien Evangelischen Gemeinden hielten sich, aufgrund ihrer Verbindung zum ACK, zurück. Seit dem Tode von Präses Pfarrer Kurt Heimbucher 1988 hört man auch vom Gnadauer Verband kaum noch kritische Äußerung gegenüber der Ökumene. Es entsteht der Eindruck, als ob inzwischen der gesamte evangelikale Bereich der Ökumene gegenüber aufgeschlossen sei.

Nicht nur proökumenische Tendenzen im Blick auf Anpassung und Zusammenarbeit mit der Römischen Kirche, sondern auch der Trend zum ökumenischen Vereinigungsweg zwischen Protestanten mit unterschiedlicher geistlicher Erkenntnis wirken sich im evangelikalen Lager aus. Die Deutsche Evangelische Allianz gab 1996 gemeinsam mit führenden Pfingstlern des BFP (Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden) eine Erklärung heraus. Seither ist die Mitwirkung von Pfingstlern in allen evangelikalen Bereichen möglich. Der Charismatiker Dr. Roland Werner wurde im Januar 1998 Referent von "Jesus House", der deutschlandweiten Satellitenmission. Im Jahr 1996 leitete er das Christival in Dresden, wobei die charismatischen Gruppen deutlich den Ton angaben. Peter Strauch, um die Jahrtausendwende Präses der Freien Evangelischen Gemeinden und Vorsitzender der Deutschen Evangelischen Allianz, hob wohlwollend hervor, daß die Zusammenarbeit von Evangelikalen und Charismatikern auch in Zeitschriften wie "Family" oder "Aufatmen" deutlich wird. Durch die volle Integration der Pfingst- und Charismatischen Bewegung ist der Prozeß der Ökumenisierung der Evangelikalen in Deutschland erheblich vorangekommen. Denn die Charismatische Bewegung hat vom Anfang an aufs engste mit der römischen Kirche zusammengearbeitet. Katholische Charismatiker meinen, daß Papst Johannes XXIII. auf dem Sterbebett diese Bewegung angekündigt habe. Kardinal Suenens, der langjährige Schutzherr der katholischen Charismatischen Bewegung schrieb 1975 sein ökumenisches Buch "Ein neues Pfingsten" und stellte darin die geistliche Verbindung von Katholischer Kirche, Charismatischer Bewegung und ökumenischen Prozeß her.

Der am meisten beklatschte Referent des gemeinsamen Kongresses Charismatischer Bewegungen vom 13.-16. Mai 1999 war der italienische Franziskanerpater Raniero Cantalamessa. Pater Raniero ist kath. Theologieprofessor und wird seiner häufigen Auftritte im Vatikan wegen als "Prediger des Papstes" bezeichnet.

Unwidersprochen erklärte er vor den ebenfalls zu den Evangelikalen zu rechnenden Charismatikern, daß Luthers Rechtfertigungslehre nicht mehr kirchentrennend sei. Zwar vertrete die katholische Kirche noch immer, daß zur Rechtfertigung Werke gehören, diese Werke seien aber "Haltungen, die den Geboten gemäß seien". Nach diesem Muster ging es beim Jesus-Marsch 2000 weiter. Wurde diese charismatische Veranstaltung bisher von den mehr pietistisch orientierten Evangelikalen gemieden, so einigte man sich 1997 auf eine Unterstützung von Seiten der Evangelischen Allianz.

Eine treibende Kraft der ökumenischen Bewegung sind dabei verschiedene protestantische und ökumenische Kommunitäten. Es geht heutigen Ökumenikern teils schon um Einheit um der Einheit willen. So meinte der protestantische Prior der Bruderschaft von Taizé, Roger Schütz: "Um den Termin der Einheit vorzuverlegen, müssen wir die christliche Gemeinschaft verwirklichen, selbst wenn sie nur provisorisch ist." Bei der katholischen Messe nach dem Tod des Papstes Johannes Paul II. im April 2005 reichte Kardinal Ratzinger (der danach zu Papst Benedikt XVI. gewählt wurde), Roger Schütz die Hostie. Und dies, obwohl Rom jede Interkomminion ablehnt und Priester, die beim Ökumenischen Kirchentag in Berlin gemeinsames Abendmahl mit Protestanten praktizierten, ihres Amts enthob. Es ist dabei schon fast peinlich zu beobachten, wie stark auch evangelikale Protestanten darauf erpicht sind, mit der Römischen Kirche Abendmahlsgemeinschaft aufzunehmen. Für die Reformatoren war die römische Messe Götzendienst (vgl. Heidelberger Katechismus). Heute setzt man alles daran, um gemeinsam mit den Dienern Roms Messe feiern zu dürfen.

Da die römische Kirche das Thema "Evangelisation" in den letzten Jahrzehnten bewußt aufgegriffen hat, fielen solche Kontaktaufnahmen leichter als in früheren Zeiten. Roms Programm "Evangelisation 2000" hat zu engen Verbindungen zum evangelikal geprägten Evangelisations-Modell "A.D.2000" geführt. Da die Evangelikalen in Deutschland die theologische Disziplin der Unterscheidungslehre (Apologetik) immer mehr vernachlässigt haben, gehen sie bereits der Worthülse "Evangelisation" auf dem Leim. Oder wissen sie nicht, daß katholische Evangelisation weit von dem entfernt ist, was missionarische Evangelikale charismatischer und pietistischer Prägung immer darunter verstanden?

Katholische "Reevangelisation Europas", wie sie die letzten Päpste nennen, versteht unter Evangelisation die Rückführung zu den Sakramenten und der Organisation der Katholischen Kirche. Im gemeinsamen Papier der Evangelikalen und Katholiken der USA von 1994 wurde dies auch ausgesprochen, wenn es heißt:

"Im Zusammenhang mit Evangelisation und Reevangelisation begegnen wir einem Hauptunterschied in unserem Verständnis zwischen der Beziehung von Taufe und neuer Geburt in Christus. Für Katholiken gilt, daß alle rechtmäßig Getauften wiedergeboren und wirklich — wie unvollkommen auch immer — in Gemeinschaft mit Christus sind.".

Leider treten profilierte Katholiken auch immer öfter bei pietistischen Veranstaltungen auf. Besonders Anselm Grün wird als hervorragender Seelsorgespezialist bis in pietistische Kreise hinein geschätzt. Gebetsformen wie das Stundengebet oder Tagzeitengebet erhalten im evangelikalen Bereich Zuspruch. Waren bisher der Ruf zur Entscheidung in die Nachfolge Jesu und die biblisch tiefschürfende Verkündigung Schwerpunkte der Evangelikalen Bewegung, so rückt seit einigen Jahren der von den Charismatikern übernommene sogenannte >Lobpreis in den Mittelpunkt. Dabei wird unter "Anbetung" das gebetsmühlenartig singende Wiederholen von Ein- und Zweizeilern verstanden. Die Philosophie und Praxis des katholischen >Rosenkranzes ist davon nicht weit entfernt. Hin und wieder wird Gebet mit musikalischer Hintergrundausmalung zur Erzeugung einer geistlichen (mystischen) Stimmung verwendet. Statt durch das Wort Gottes in die Gegenwart Jesu zu führen, wird eine Atmosphäre geschaffen, wie sie im katholischen Bereich durch die Liturgie und im Pfingstlerischen teilweise durch aufgeheizte Stimmung erzeugt wird. Praktisch-theologisch sind durch die charismatische Lobpreismystik katholische Frömmigkeitsformen mit scheinbar protestantischen und modernen Tönen bis tief in die pietistischen Gemeinschaften und den zu dem evangelikalen Spektrum zu zählenden Freikirchen eingedrungen.

Auch der Genfer Ökumene kritisch gegenüberstehende Theologen sind vor dem römischen Virus nicht ganz gefeit. Prof. Peter Paul Johannes Beyerhaus bekannte sich 1998 öffentlich, nach dem Offenbarwerden seiner heimlichen Bischofsweihe, zur in der römischen Tradition beheimateten apostolischen Sukzession.. Allerdings hat er die Weihe nicht von der Katholischen Kirche, sondern von lutherischen Amtsträgern, die dieser römischen Lehre anhängen, bekommen. In Kanada erklärte der dortige Vorsitzende der Evangelischen Allianz, Gary Walsh (Toronto), nach einem Besuch bei der katholischen Kirchenleitung in Toronto, daß die kanadische Allianz Möglichkeiten einer engeren Zusammenarbeit mit der Katholischen Kirche prüfe. Ohne daß es der Öffentlichkeit bekannt wurde, gab es seit 1993 geheime Gespräche zwischen der Weltweiten Evangelischen Allianz und dem Vatikan, die in eine gemeinsame Erklärung münden sollen. Allerdings ist es bis 2005, wegen offenkundiger Lehrunterschiede, zu keiner offizellen Stellungnahme gekommen.

Einige Kommunitäten und ihre geistlichen Leiter verstehen ihre Aufgabe als Kämpfer für eine geistlich und organisatorisch geeinte Christenheit. Manche greifen Kritiker der ökumenischen Bewegung an und unterstellen ihnen Sektengeist. Die Zeitschrift der Bruderschaft von Taizé erklärte:

"Es gibt noch Christen, die sich aus Radikalismus und Fanatismus weigern, in diese ökumenische Bewegung einzutreten, die immer stärker auf die Kirchen übergreift, auf die katholische wie auf die anderen. Darin ist heutzutage die Irrlehre erkenntlich ... Hindert uns der Sektengeist, der ökumenischen Bewegung entschlossen beizutreten, dann fallen wir in die Sünde der Häresie. Die neue ökumenische Orientierung nach Rom hin macht es jedem Christen zur Pflicht, ihr beizutreten, denn die Nichtbeteiligung an dieser Bewegung konstituiert die heutige Sünde".

Es scheint so, daß sich, auch wegen der geistlichen Dürre in den evangelischen Kirchen, manche Christen nach der starken religiösen Führungspersönlichkeit sehnen. Rom hat eine solche Persönlichkeit: den Papst. Bereits 1999 schrieben Vertreter von 15 deutschsprachigen evangelischen Kommunitäten und Vereinigungen, unter anderem der Jesus-Bruderschaft Gnadenthal, der Michaelsbruderschaft, der Christusbruderschaft Selbitz und der Kommunität "Steh auf", an den Papst. Sie schrieben, daß mit der >Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre das Haupthindernis zur Anerkennung des Papstamtes beseitigt sei. Sie akzeptieren den Papst, würden ihn aber mehr als eine Art Sprecher der geeinten Christenheit sehen. In der Antwort des päpstlichen Rates für die Einheit der Christen erklärte Bischof Pierre Duprey die Bereitschaft des Vatikans zu einem "Brüderlichen Dialog über das Petrusamt". Daß über ein von unterschiedlichen Traditionen belastetes Thema konstruktiv diskutiert werde, sei ein "verheißungsvolles Zeichen für die Zukunft der Ökumene", erklärte der Sprecher der Gruppe, die den Brief an den Papst gerichtet hat, der evangelische Theologieprofessor Christoph Schmidt-Lauber. Er meint, das Schreiben beweise "katholische Beweglichkeit".

Zur Beurteilung s.: Katholisches Kirchenverständnis; Reformatorisces Kirchenverständnis; Rückkehr-Ökumene nach Rom; Gemeinde.

Lit.: R. Wagner, Gemeinde Jesu zwischen Spaltungen und Ökumene, 2002; E. Brüning / H.-W. Deppe / L. Gassmann, Projekt Einheit. Rom, Ökumene und die Evangelikalen, 2004: L. Gassmann, Pietismus wohin?, 2004.

Rainer Wagner


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